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Datum:   04.09.2000
Ressort:   Feuilleton
Autor:   Eva Schweitzer

Rücksicht auf die Verbündeten

Ein Gespräch mit Raul Hilberg über Norman Finkelsteins Buch "The Holocaust Industry"

Der amerikanische Politologe Raul Hilberg, Autor des dreibändigen Werks "Die Vernichtung der europäischen Juden", ist einer der bedeutendsten Köpfe der Holocaust-Forschung. Hilberg, der als Junge mit seinen Eltern aus Österreich flüchten musste, lebt heute in Vermont.

Herr Hilberg, Norman Finkelstein wirft den jüdischen Organisationen der USA, insbesondere der Jewish Claims Conference vor, sie erpressten Geld unter Berufung auf bedürftige Holocaust-Überlebende. Wird diese Kritik geteilt?

Finkelstein kritisiert die jüdischen Organisationen als Outsider. Es gibt aber auch konservative Juden, die sich gegen Entschädigungszahlungen wenden, und es wird auch kritisiert, dass das Geld nicht zuerst an Überlebende verteilt wird, wie etwa in "Commentary", der Zeitschrift des American Jewish Committee. In der neuesten Ausgabe nennt Gabriel Schoenfeld die heutige Lage der Reparationen einen "wachsenden Skandal".

Aber Finkelstein selbst gilt in den USA als Unperson .

Ja, denn es wird ihm vorgeworfen, dass er das Schicksal der Juden mit dem der Palästinenser, die von den Israelis vertrieben wurden, vergleicht - das können die amerikanischen Juden nicht ertragen. Zum anderen hat Finkelstein - zusammen mit Ruth Bettina Birn - das Buch "A Nation on Trial" verfasst, das Daniel Goldhagens Buch "Hitlers Willing Executioners" kritisiert. Goldhagen ist sehr populär in den USA, obwohl er sich, wissenschaftlich gesehen, auf dem Stand von 1946 befindet. Aber Goldhagen hat einem unterdrückten Ärger der amerikanischen Juden Ausdruck verliehen, der sich heutzutage gegen alle möglichen Staaten und Organisationen in Europa richtet.

Aber die Situation der amerikanischen Juden heute ist doch mit der damaligen in Europa gar nicht zu vergleichen.

Das stimmt. Die Jewish Community in den USA ist die erfolgreichste und wohlhabendste der Welt. Es gab schon vor etwa zehn Jahren 18 amerikanische Milliardäre, die Juden waren und jetzt sind es weit mehr. Dazu gehört Edgar Bronfman, der Präsident des World Jewish Congress und einer der Hauptaktionäre des Seagram-Konzerns. Diese Leute könnten die Armut unter Holocaust-Überlebenden innerhalb einer Woche beseitigen.

Welche Bedeutung hat der Holocaust in den USA heute?

Es gibt in den USA viele Intellektuelle, die den Holocaust nutzen, um an Stellen in Museen oder Universitäten zu kommen. Es gab schon vor Jahrzehnten eine "German Studies Association", eine Vereinigung amerikanischer Forscher, die sich mit der deutschen Kultur beschäftigte. Aber die Studenten interessierten sich nicht für Nachkriegsdeutschland. Erst als der Holocaust als Studienobjekt entdeckt wurde - und das ist erst 15, 20 Jahre her -, blühte diese Association auf. Heute gibt es Hunderte von Holocaust-Kursen in den USA. Und wenn diese Forscher einen Lehrauftrag erhalten oder ein Buch verkaufen wollen, dann geht das am besten, wenn es um den Holocaust geht.

Auch bei der Kampagne gegen die Schweizer Banken ginge es darum, Geld in US-Kassen zu schaufeln, meint Finkelstein.

Das Vorgehen des World Jewish Congress gegen die Schweiz war eigentlich ein Zusammenprall der amerikanischen Kultur mit der europäischen. Diese Class-Action-Suits, die Sammelklagen, mit denen der Schweiz gedroht wurde, gibt es in Europa nicht. Aber in den USA sind sie gang und gäbe, beispielsweise gegen die Zigarettenindustrie. Der World Jewish Congress und die Anwälte haben den Schweizer Bankern gesagt: Ihr könnt keine Geschäfte mehr in den USA machen, wenn ihr nicht 20 Milliarden Dollar zahlt. In den USA weiß man, dass das nur eine Einstiegsdrohung ist, aber die Schweizer waren geschockt.

Aber es gab doch tatsächlich Gelder auf eingefrorenen Konten, die Holocaust-Opfern gehört haben?

Aber keine 20 Milliarden Dollar. Die Juden in den 30er-Jahren waren arm. Unsere Familie gehörte zur Mittelschicht, aber wir hatten noch nicht einmal ein Konto in Österreich, geschweige denn eines in der Schweiz. Auf den meisten herrenlosen Konten lagerten höchstens einige tausend Franken. Denn die wirklich wohlhabenden Juden konnten sich entweder ins Ausland retten oder ihre Erben haben die Gelder schon lange reklamiert.

Zu welchen Ergebnissen ist denn die so genannte Volcker-Kommission gekommen, die zur Klärung eingesetzt wurde?

Der Wert der Konten in heutiger Kaufkraft liegt weit unter 1,25 Milliarden Dollar, die die Banken zahlen. Dabei hat allein die Untersuchung mindestens 250 Millionen Dollar gekostet - da haben Buchhalter und Anwälte sehr viel verdient. Aber nachdem der Bericht der Volcker-Kommission veröffentlicht war, wäre es den Schweizern peinlich gewesen zu sagen, sie hätten zu viel bezahlt.

Aber der Hauptvorwurf von Finkelstein ist, das Geld sei bis heute nicht an die Kontoinhaber ausgezahlt worden, nicht einmal der Notfallfonds von 200 Millionen Dollar.

Es dauert eben lange, bis der Richter einen Beschluss über die Verteilung der Gelder fassen kann. Das Geld soll zum einen an die Kontoinhaber beziehungsweise deren Erben gehen, ein weiterer Teil an Zwangsarbeiter, die bei Firmen beschäftigt waren, die Konten in der Schweiz hatten, und der vierte Teil an Flüchtlinge, die an der Grenze zurückgewiesen wurden.

Warum gab es kein solches Vorgehen gegen amerikanische Banken, wo ebenfalls Gelder von Holocaust-Opfern lagern?

Das fängt jetzt erst an. Auch gegen israelische Banken wird geklagt. Aber in der Summe liegt dort vermutlich genauso wenig Geld wie bei den Schweizer Banken.

Warum werden diese Forderungen - auch die nach Zwangsarbeiter-Entschädigung - erst so spät gestellt?

Während des Kalten Krieges mussten die USA Rücksicht auf ihre Verbündeten nehmen. Deshalb wird etwa auch bis heute nicht die Frage aufgeworfen, wieweit die Türkei mit den Nazis kollaboriert hat, weil das wichtige Alliierte der USA und Israels sind. Aber in Europa können die jüdischen Organisationen jetzt Geld einsammeln, ohne die Sicherheit der USA zu gefährden. Was ich interessant finde, ist, warum der World Jewish Congress bisher kaum Druck auf Österreich macht, obwohl führende Nazis und SS-Leute Österreicher waren, bis hin zu Hitler.

Und warum denn nicht?

Unmittelbar nach dem Krieg wollten die USA, dass die Russen aus Österreich abzogen und die Russen wollten Österreich neutral halten, daher gab es ein gemeinsames Interesse, Österreich den Opferstatus zuzuerkennen. Und später konnte sich Österreich damit herausreden, dass es arm sei - dabei ist das Pro-Kopf-Einkommen dort genauso hoch wie in Deutschland. Aber vor allem funktioniert deren PR-Maschine besser. Österreich hat den Opernball, die Hofburg, Mozartkugeln, das mögen Amerikaner. Und sie investieren und verkaufen verhältnismäßig wenig in den USA und sind daher nicht erpressbar. Inzwischen gibt es in Österreich eine Kommission, die den Verbleib jüdischen Vermögens untersuchen soll. Viktor Klima, der frühere Kanzler, hat mich gebeten, der beizutreten. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg in der österreichischen Armee gekämpft und wurde 1939 aus Österreich hinausgeworfen. Nach dem Krieg wurde ihm eine Entschädigung von zehn Dollar im Monat angeboten. Deshalb habe ich dem Klima gesagt, nein danke, davon würde mir übel.

Sie haben einmal gesagt, in der Holocaust-Debatte gibt es keine Qualitätskontrolle.

Das stimmt, insbesondere an mehreren der US-Elite-Universitäten. Nur so konnte Goldhagen einen Doktor in politischer Wissenschaft in Harvard machen, obwohl es niemanden in diesem Fachbereich gab, der seine Arbeit hatte überprüfen können.

Das Gespräch führte Eva Schweitzer.

In Europa können die jüdischen Organisationen jetzt Geld einsammeln, ohne die Sicherheit der USA zu gefährden.

BERLINER ZEITUNG/ANDREAS LABES "Österreich hat den Opernball, die Hofburg, Mozartkugeln, das mögen Amerikaner. " Raul Hilberg 1999 im Frankfurter S. Fischer Verlag.

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