Neue Zürcher Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 12.06.1999 Nr. 133 94
Die aus dem im Grunde gut gemeinten Code of Conduct hervorgegangene Political Correctness hat sich in Deutschland rasch zum Tugendterror entwickelt. Die selbsternannten «politisch Korrekten» wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit und verweigern deshalb jedes Recht auf Widerspruch. Dies gilt in erster Linie für die in Deutschland herausragenden Tabuthemen, die Martin Walser immer wieder aufzeigt: die nationalsozialistische Geschichte Deutschlands, die Frauen sowie die Ausländer. Und wenn man sich diesen Themen doch aufgeschlossen nähert, schlägt unbarmherzig die «Faschismuskeule» nieder - ein Begriff, den der Politologe Helmut Knütter geprägt hat. Ist man mit diesem Totschlagargument als Faschist, Rassist oder Sexist erfolgreich verunglimpft worden, wird man zum Aussätzigen degradiert, dem keine Gelegenheit mehr geboten wird, seinen Standpunkt darzustellen. Das Fatale an der Political Correctness ist, dass manche Auseinandersetzungen und Diskussionen von vornherein nicht oder nur in Form einer Diffamierungskampagne oder eines Schauprozesses stattfinden können. Dieses verordnete Denkverbot führt schliesslich zur Verkümmerung der Geistesfreiheit im ehemaligen Land der Denker. Politische Korrektheit erweist sich möglicherweise als Instrument der geistigen Gleichschaltung und stellt in der modernen Kulturgeschichte einen aussergewöhnlichen Präzedenzfall zensorischer Manipulation im Prozess der politischen Willensbildung dar.
Verdeutlichen wir diese Manipulation anhand plastischer Beispiele: In Deutschland ist es seit geraumer Zeit aus vermeintlich antidiskriminierenden Gründen nicht mehr korrekt, von Zigeunern zu sprechen. Nur im Deutschen - und wirklich nur im Deutschen! - heisst es jetzt politisch korrekt «Roma und Sinti», wobei diese Bezeichnung vollkommen inkorrekt ist, da es sich hierbei lediglich um die zwei Hauptstämme der Zigeuner handelt. Im Grunde genommen ist die generalisierende Bezeichnung «Roma und Sinti» sogar rassistisch, da sie die kleineren Zigeunerstämme, wie z. B. die Lalleri, die Manusch, die Joneschti, die Polatschia, die Sikligars, die Boschi oder die Calé ignoriert und damit diskriminiert. Im Frühjahr 1996 gaben die Verantwortlichen des Evangelischen Missionswerkes in der eigenen Zeitung «Eine Welt» die Parole aus: Menschenrechte für Menschenaffen! Sie begründeten ihre Forderung damit, dass sich Mensch und Schimpansen genetisch kaum voneinander unterschieden. Der Theologe Martin Brückner schlussfolgerte daraus eine «unglaubliche Nähe» und meinte allen Ernstes, dass die Vorenthaltung der menschlichen Grundrechte den Affen gegenüber prinzipiell nichts anderes als Rassismus oder die Abwertung der Frau sei. Keine Idee scheint heute zu absurd, um nicht als neue und allgemeingültige Verhaltensmassregel eingeführt werden zu können. Lächerlichkeit und Unterminierung des Selbstwertgefühls sind der Preis. Die direkte, in vielen deutschen Medien täglich zu erlebende Konsequenz der Durchsetzung politisch korrekter Verhaltensweisen ist die Bildung einer geschlechtslosen und aussagenschwachen Einheitssprache, hinter der nichts anderes als politisches Kalkül steht. Auf diese Weise avancierte der ursprüngliche Fremdarbeiter über den Gastarbeiter zum ausländischen Arbeitnehmer und ausländischen Mitbürger und wird heute endlich als Immigrant gehandelt. Der Lehrling wurde im Zuge der sozialistischen Gleichstellung ein Auszubildender, der allerdings rasch zum infantilen «Azubi» verkümmerte. Geradezu ein sozialer Shooting-Star wurde die Putzfrau, die nach der Raumpflegerin als Parkettkosmetikerin natürlich nicht mehr putzt, sondern sich nun der innenarchitektonischen Schönheitspflege widmet.
Insbesondere gegen Denkverbote in Wissenschaft, Forschung und Lehre gälte es heute anzukämpfen. Gerade auf diesen Gebieten verhindert die Political Correctness vielfach seriöses Agieren, da sie gewisse Forschungsvorhaben und Problemkonstellationen von vornherein tabuisiert und diese folglich nicht zu erforschen sind. Keineswegs sind es nur politisch korrekte bzw. «antifaschistische» Publikationen, die «politisch Inkorrekte» denunzieren. Die selbsternannten Tugendwächter haben es zwischenzeitlich geschafft, ihren Einfluss auf alle hohen Ämter und Positionen auszubreiten. Da wundert es denn nicht, dass selbst das Amt für Verfassungsschutz in deren Jargon verfällt. Nach dessen bedenklicher Auffassung soll die angebliche «Abwehr von Political Correctness die eigenen extremistischen Auffassungen gegen Kritik immunisieren»! Mit dieser denunzierenden Aussage wird nicht nur dem politischen Gegner und kritischen Wissenschafter, sondern grundsätzlich jedem unvoreingenommenen Zeitgenossen, der von seinem Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit ungeniert Gebrauch machen will, pauschal unterstellt, ein Extremist zu sein. Mit diesem Stigma behaftet wird ein freier Meinungsaustausch zunichte gemacht. Spätestens der Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre sollte zeigen, dass die Wissenschaft längst in diverse politische Interessensphären aufgeteilt ist. Das, was Ernst Nolte und verschiedene andere renommierte Historiker forderten, war nichts anderes als der Beginn einer revisionistischen Geschichtsbetrachtung. Dies bedeutet nichts Anrüchiges, ist die kritische Überprüfung bisheriger Forschungsergebnisse doch das Selbstverständlichste einer jeden Wissenschaft: Der Begriff «Revision» leitet sich vom lateinischen Wort «revidere» ab, das «wieder hinsehen» bedeutet. Sachverhalte wieder durchzusehen ist aber die vornehmste und natürlichste Aufgabe sämtlicher Wissenschafter. So obliegt es auch den Historikern, die Geschichtsschreibung immer wieder anhand neuer Erkenntnisse, Entdeckungen und Forschungsergebnisse eingehend zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Dies ist einzig und allein das Rüstzeug seriöser Wissenschaft.
An dieser Stelle scheint eine Grundsatzaussage über den Revisionismus angebracht, zumal er das Angriffsziel par excellence der politisch Korrekten darstellt. Man erinnert sich vielleicht noch an eine der vielen «historischen Tatsachen» dieses Jahrhunderts, die revidiert werden musste: Millionen von gottesfürchtigen Pilgern bestaunten noch bis vor wenigen Jahren in Turin das «Leichentuch Christi» - bis labortechnische Untersuchungen den Nachweis erbrachten, dass das Tuch aus dem Mittelalter stammt. Der Papst hat meines Wissens die mit den Untersuchungen beauftragten Wissenschafter - Revisionisten! - weder exkommuniziert noch wurden ihnen unlautere Mittel vorgeworfen. Neue Erkenntnisse werden nicht nur in geisteswissenschaftlichen, sondern vor allem auch in naturwissenschaftlichen und technischen Bereichen beinahe täglich gewonnen. Stellvertretend sei ein Beispiel aus der Paläontologie angeführt: Die meisten Leser dieser Zeilen werden der Auffassung sein, dass der grösste und älteste fleischfressende Saurier der Tyrannosaurus rex gewesen sei. Im September 1995 legten jedoch argentinische Paläontologen im Nordwesten Patagoniens die versteinerten Überreste einer bisher unbekannten Dinosaurierart (Giganotosaurus carolinii) frei, der noch grösser als der Tyrannosaurus rex war und vor rund 70 Millionen Jahren in der Kreidezeit lebte. Doch wer sich nunmehr im Besitz «der Wahrheit» glaubte und meinte, als historische Tatsache verkünden zu können, dass der Giganotosaurus der grösste fleischfressende Saurier sei, der jemals auf der Erde gelebt habe, wurde bereits im Mai 1996 eines Besseren belehrt: In Marokko entdeckten Wissenschafter den um 20 Millionen Jahre älteren und noch grösseren Carcharodontosaurus saharicus - was natürlich alle notwendigen revidierenden Konsequenzen mit sich zog. Was für Paläontologen, Gentechniker oder Kernphysiker gilt, hat selbstverständlich auch für Geisteswissenschafter Gültigkeit: Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bezweifelt oder überprüft der Historiker die Ausgangslage, die bisherigen Erkenntnisse und den augenblicklichen Stand der Forschung. Vertritt er jedoch für seine Arbeit diese Grundlage, ist er in den Augen der politisch Korrekten bereits zu Beginn seiner Untersuchungen suspekt. Doch kann wissenschaftliche Forschung gar nicht anders betrieben werden als dadurch, vorgegebene Prämissen zu untersuchen und Ergebnisse nicht vorwegzunehmen. Sonst würde die Erde heute noch als Scheibe verkannt.
Die Revisionisten pauschal als «Rechtsextreme» zu diffamieren, hat weder mit einer sachlichen Bewertung ihrer Arbeit noch mit einer notwendigen und kritischen Auseinandersetzung innerhalb der Wissenschaft und Forschung zu tun, sondern ist meines Erachtens ausschliesslich politisch motiviert. Das Motto ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: «Mache deine politischen Gegner verächtlich, anstatt sie mit Gegenargumenten zu respektieren, und etabliere so - als dann einzige ernstzunehmende Kraft - deine Positionen in einem breiten Spektrum.» Auf der Strecke bleibt dabei freilich die oft beschworene demokratische Grundordnung, in der eine freie politische Willensbildung garantiert wird. Der ehemalige Verteidiger von RAF-Terroristen, Rechtsanwalt Horst Mahler, meinte unlängst: «Nach französischen Untersuchungen soll es zurzeit in Deutschland mehr politische Gefangene als in der DDR im Jahr vor ihrem Zusammenbruch geben.» Dieser Umstand ist ein erschreckender Indikator für die in diesem Lande praktizierte Meinungsfreiheit. Politische Korrektheit verursacht starre Denkbarrieren, die eine offene und problemlösungsorientierte Diskussion blockieren und somit den Weg zu einer geistigen Weiterentwicklung verstellen. Die Freiheit der Forschung darf von keiner Macht in dem Sinne eingeschränkt werden, dass dem Suchen nach Erkenntnis vorgeschrieben würde, was als wahr zu gelten hat. Sonst droht die Forschung zum ideologischen Instrument eines Meinungs- und damit Machtkartells zu verkommen und ihren Stellenwert als Voraussetzung des geistig regen und schaffenden Menschen einzubüssen. Political Correctness ist für einen freiheitlichen Staat eine Bedrohung, da am Ende an dessen Stelle der Staat der Einheitsmenschen, der Gesinnungsstaat, tritt. Nährboden findet die politisch korrekte Kraft jedoch, wie es der Schriftsteller Reiner Kunze nennt, gerade in der gnadenlosen Ideologisierung des geistigen Lebens in Deutschland. Und diese wiederum ist für den Justizminister Sachsens, Steffen Heitmann, Ausdruck eines seelisch kranken Volkes. Man braucht kein Psychoanalytiker zu sein, um hierin den Kern der deutschen Selbstentfremdung zu erkennen. * Vom Autor ist erschienen: Sind Gedanken noch frei? Zensur in Deutschland. - München: Universitas 1998.
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