Die Erstausgabe des Rudolf Gutachtens auf vho.org/D/rga1
Vgl. auch die revidierte Fassung dieses Abschnittes, Stand Frühjahr 1999

2.3. Bildung von Eisenblau
Die Bildung des Pigments aus dem Cyanoferrat und dem komplementären Eisensalz läuft in wässriger Lösung im Gegensatz zu anderen Übergangsmetallsalzen unmittelbar und vollständig ab[96]. (Eisenblau erhält seine Farbe durch die Anwesenheit von Eisen in unterschiedlichen Oxidationsstufen (zwei- und dreiwertig, Charge-Transfer-Complex). Zur Bildung muß daher die eine Komponente zweiwertiges Eisen, die andere, dazu komplementäre, dreiwertiges enthalten.)
Es entsteht daneben auch durch Reduktion von [FeIII(CN)6]3- zu [FeII(CN)6]4-, das sich dann mit Fe3+ zum Eisenblau umsetzt. Als Reduktionsmittel kann dabei z.B. freies Cyanid dienen. Dieses kann durch photolytische (durch Licht verursachte) Zersetzung von [FeIII(CN)6]3- mittels UV-Strahlung entstehen[97-99].
Es kann auch durch Adsorption bzw. Absorption und anschließender Dissoziation von Blausäure entstehen. (Absorption: Aufnahme von Stoff oder Energie in ein Medium, z.B. Licht in einen Farbstoff, Gas in eine Flüssigkeit; Adsorption: Anhaften von Stoffen an einer Oberfläche, z.B. von Gas an einer Feststoffoberfläche. Man unterscheidet zwischen Chemisorption, bei der der Stoff chemisch an die Oberfläche gebunden wird, und Physisorption, bei der für die Bindung rein physikalische Effekte verantwortlich sind. Der Übergang zwischen beiden Arten ist fließend. Dissoziation ist die Spaltung von Verbindungen, in diesem Fall in ungleichnamig geladene Ionen (heterolytisch) im wässrigen Medium:  HCN + H2O
® CN- + H3O+.)
Die Reduktion des [Fe(CN)6]3- durch Cyanid mit anschließender Eisenblau-Bildung läuft bei pH-Werten von 9 bis 10 am schnellsten ab[100]. (pH (pondus Hydrogenii) ist ein Maß für den Säuregehalt einer wässrigen Lösung (negativer, dekadischer Logarithmus der H3O+-Konzentration: -lg10(c(H3O+))):  pH < 7: sauer;  pH = 7: neutral;  pH > 7: alkalisch bzw. basisch)
Dies ist verständlich, da das Cyanid zum Cyanat (NCO-) oxidiert wird. Gestützt wird dieser Befund durch die bekannte Tatsache, daß Hexacyanoferrat(III) im alkalischen Medium ein starkes Oxidationsmittel ist und dort sogar dreiwertiges zu sechswertigem Chrom zu oxidieren vermag[101]. Treibende Kraft dieser Reaktion ist die energetisch wesentlich günstigere Lage des Hexacyanoferrats(II) gegenüber dem Hexacyanoferrat(III)[102]. Aus diesem Grunde wird eine direkte Reduktion des unkomplexierten, d.h. nicht mit Cyanid umgebenen Fe3+ energetisch benachteiligt sein und ist daher vernachlässigbar. Demnach gliedert sich die Pigmentbildung in dem hier betrachteten Fall in 5 Schritte:

  1. Ad-/Absorption von Blausäure (HCN)
  2. Dissoziation von HCN zu CN- und H+
  3. Komplexierung von Fe3+ zu [Fe(CN)6]3-
  4. Reduktion des [Fe(CN)6]3- zu [Fe(CN)6]4-
  5. Ausfällung mit Fe3+ als Fe4[Fe(CN)6]3, Eisenblau
Die Bildungsgeschwindigkeit des Pigments kann von verschiedenen Faktoren beeinflußt werden:
  1. Wassergehalt des Reaktionsmediums
  2. Reaktivität des Eisens
  3. Temperatur
  4. pH-Wert

2.3.1. Wassergehalt
Die Bildung von Cyanid durch Absorption und anschließende Dissoziation von Blausäure in Wasser ist notwendige Voraussetzung für eine Reaktion mit Eisen, da die Blausäure selber gegenüber Metallionen wegen ihrer zu geringen Nucleophilie nur eine geringe Reaktivität zeigt. (Nucleophilie (gr.: Kernliebe) ist das Bestreben eines Teilchen, mit positiv geladenen Teilchen zu reagieren. Dafür ist zumindest eine partiell negative Ladung des nucleophilen Teilchens nötig. In diesem Fall ist das Cyanid durch seine negative Ladung (CN-) gegenüber dem positiv geladenen Eisen (Fe3+) wesentlich nucleophiler als die ungeladene Blausäure.)
Neben der Dissoziation der Blausäure in Wasser kommt der Prozeß der Chemisorption
an festen Oberflächen in Frage, bei der die Blausäure ihr Proton (H+) an ein basisches Oxid abgibt und selbst an ein Metallion gebunden wird.
Die Absorption und Dissoziation der hervorragend wasserlöslichen Blausäure (siehe Abschnitt 2.3.3., S. 42) ist der Chemisorption klar überlegen. Für die Komplexbildung und die Redoxreaktion des Cyanids mit dem Fe3+ schließlich ist die wässrige Phase als Lösungsmittel (Solvens) unumgänglich. Das wässrige Medium schließlich sorgt für die Mobilität der Reaktionspartner, die nicht immer am gleichen Ort entstehen. Schließlich dient die im Festkörper enthaltene Feuchtigkeit als Blausäure-Falle, da die Feuchtigkeit die Blausäure intensiv bindet. Umgekehrt, je trockener der Festkörper ist, um so leichter wird einmal ad-/absorbierte Blausäure wieder an die Umgebung abgegeben. Ein relativ hoher Wassergehalt im Festkörper wird daher die Reaktion wesentlich beschleunigen.
Versuche zur Reaktion von Blausäure (etwa 4 g pro m3 in Luft, 15°C, 75% rel. Luftfeuchte) mit an feuchten Papierstreifen anhaftendem Fe(OH)2-Fe(OH)3-Gemisch ergaben bei pH-Werten von 2 bis 3 innerhalb 30 min. keine Blaufärbung, da bei diesen Werten fast keine Blausäure zum reaktiven Cyanid dissoziiert (siehe Abschnitt 2.3.4., S. 44). Bei pH-Werten von 7 bis 9 trat eine deutlich sichtbare Blaufärbung wenige Minuten nach Probenzugabe ein. Bei höheren pH-Werten verlängerte sich die Zeit wieder, da die zu Beginn absorbierte Blausäure zuerst den pH-Wert absenken mußte, bevor sich das Pigment bilden konnte (siehe Abschnitt 2.4.1., pH-Sensibilität, S. 45).
Die Versuche zeigen deutlich, daß undissoziierte, gasförmige oder als Gas gelöste Blausäure keine Reaktivität zeigt. Eine Zugabe von winzigen Mengen KCN zu einer schwefelsauren Fe2+/Fe3+-Lösung ergibt hingegen eine sofortige Ausfällung des Pigments. Offensichtlich setzt sich das Cyanid schneller mit den Eisensalzen um, als es von der verdünnten Schwefelsäure protoniert, d.h zur Blausäure umgewandelt werden kann.

Anmerkungen

  1. F. Krleza, M. Avlijas, G. Dokovic, Glas. Hem. Tehnol. Bosne Hercegovine, 1977 (Vol. Date 1976), 23-24, S. 7-13.
  2. G. Stochel, Z. Stasicka, Polyhedron 1985, 4 (11), S. 1887-1890.
  3. T. Ozeki, K. Matsumoto, S. Hikime, Anal. Chem. 1984, 56 (14), S. 2819-2822.
  4. L. Moggi, F. Bolletta, V. Balzani, F. Scandola, J. Inorg. Nucl. Chem. 1966, 28, S. 2589-2598.
  5. M.A. Alich, D.T. Haworth, M.F. Johnson, J. Inorg. Nucl. Chem. 1967, 29, S. 1637-1642. Spektroskopische Studien der Reaktion von Hexacyanoferrat(III) in Wasser und Ethanol. Eingesetzt wurden 3,3×10-4 M Fe(NO3)3 mit einem Cyanid-Überschuß von ebenfalls 3,3×10-4 mol l-1. Bei pH-Werten um 10 wurde alles Fe2[Fe(CN)6] innerhalb 48 Stunden in Eisenblau umgewandelt. Cyanat, das zu erwartende Oxidationsprodukt des CN-, konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Womöglich wird dieses direkt weiter oxidiert bis zum CO2.
  6. J.C. Bailar, Comprehensive Inorganic Chemistry, Vol. 3, Pergamon Press, Oxford 1973, S. 1047.
  7. R.M. Izatt, G.D. Watt, C.H. Bartholomew, J.J. Christensen, Inorg. Chem. 1970, 9, S. 2019ff. Kalorimetrische Messungen bezüglich der Bildungsenthalpien von Eisenblau aus den unterschiedlichen Ausgangsstoffen (in Klammern) ergaben: DH(Fe2+ + [Fe(CN)6]3-)= -66,128 kJ mol-1; DH(Fe3+ + [Fe(CN)6]4-)= 2,197 kJ mol-1.


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