Der Spiegel, 40/1998, Seite 90ff
Die Erinnerung der Täter
Hans Münch ist der letzte noch lebende KZ-Arzt von Auschwitz, damals ein Bewunderer von Josef Mengele und heute geachteter Bürger in Roßhaupten im Allgäu. Er sagt: »Ich konnte an Menschen Versuche machen, das war wichtig für die Wissenschaft.« (von Bruno Schirra)
Dr. Hans Münch, Landarzt in Roßhaupten am Forggensee, sitzt ruhig dabei. Er seziert den Film (Schindlers Liste): »Die Selektion ist absolut authentisch dargestellt«, sagt er. »Da stimmt jedes Detail. Genau so war es.« Er muß es wissen. Er war während der Selektionen auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau. Münch erzählt plaudernd: »Die Juden waren zu Haufen aufeinander geschichtet und kohlten vor sich hin. Die wollten einfach nicht brennen. Aber das war ein technisches Problem und wurde natürlich gelöst.« Er sitzt in seinem Ledersessel unter dem ans Kreuz genagelten Jesus und krault seinem Kater Peter den Nacken, während er beschreibt, wie die Häftlinge Gräben um die Scheiterhaufen zogen. In denen habe sich das Fett gesammelt: Mit Kellen schöpften die Häftlinge es ab und übergossen die Leiber. Die brannten dann besser. Wenn ein Häftling nicht spurte, konnte es passieren, daß ein SS-Aufseher ihn in die kochende Brühe stieß. Wie schnell der dann starb, darüber wundert sich Münch noch heute. Und reicht Marmorkuchen.
Seine Frau sitzt währenddessen ganz in sich zurückgezogen in ihrem Sessel. Die Gespräche über die Vergangenheit ihres Mannes fließen an ihr vorbei, bis sie plötzlich aufschreckt: »Mein Gott, wie ich mich schäme, eine Deutsche zu sein.« Münch blickt auf. »Ich nicht.« Nun gut, sagt er, die Juden hätten es schlimm gehabt in Auschwitz. Aber für ihn sei es auch nicht leicht gewesen. Und wenn er heute einen Juden treffen würde? Hans Münch zuckt mit den Schultern. Er sagt: »Ich kenne keine freilebenden Juden. Ich kenne nur Auschwitz-Juden.« ...
Hans Münch war 19 Monate im Lager Auschwitz. Im Hygiene-Institut der Waffen-SS leistete er seinen Dienst. Im Schatten der Rampe, der Gaskammern, der Krematorien. Münch verrichtete seine Arbeit gewissenhaft wie all die anderen SS-Chargen auch. »Juden auszumerzen, das war eben der Beruf der SS damals«, sagt Münch. Aber: »Meine Juden haben mich verehrt. Die haben mich geachtet.« ...
»Ich bin ein human eingestufter, nicht verurteilter Kriegsverbrecher«, sagt Münch und spricht von den Möglichkeiten, die er als Arzt in Auschwitz hatte: »Ich konnte an Menschen Versuche machen, die sonst nur an Kaninchen möglich sind. Das war wichtige Arbeit für die Wissenschaft.«
Seine Frau hat eine Brotzeit hergerichtet, und Münch ißt ein Schinkenbrot, während er erzählt, wie er seinen Häftlingen Streptokoken in die Arme und den Rücken injizierte. Im Block 10, wo seine SS-Kollegen ihre medizinischen Versuche an Menschen machten, hatte auch Münch seinen eigenen Laborraum. Er wollte den Zusammenhang zwischen vereiterten Zahnwurzeln und Rheuma nachweisen. Für die Wissenschaft riß er den Häftlingen Zähne aus, »um an den Eiter ranzukommen«. Waren deren Zähne gesund, injizierte er ihnen den Eiter anderer Häftlinge. »Das Menschenmaterial«, sagt er, habe er von Dr. Clauberg bekommen, Frauen, »die sonst vergast worden wären«. Von Carl Clauberg, der im Block 10 seine Sterilisationsexperimente an Frauen vornahm. Ein widerlicher Mensch, dieser Clauberg, sagt Münch heute, »hat ausgeschaut wie ein Jud« ...
Es war »ein herrliches Biergartenwetter«, als Münch im Sommer 1943 mit seiner Frau in Auschwitz ankam. Er freute sich. Ein strahlender Himmel, die Hitze hätte ihn schläfrig werden lassen, wäre nicht dieser Geruch gewesen. Süß und modernd. »Niemand konnte den Gestank, der über der Gegend lag, ignorieren. Und jeder sah die Flammen, die aus den Schloten kamen«, erzählt er. »Man hat nach spätestens zwei Tagen gewußt, was los war.« ...
Aber was Münch in Auschwitz vorfand, ließ in bleiben: »Das waren ideale Arbeitsbedingungen, eine exzellente Laborausrüstung und eine Auslese von Akademikern mit weltweitem Ruf.« Der Landarzt aus dem Allgäu traf unter den Häftlingen »die besten Wissenschaftler des Pasteur-Instituts und hochausgebildete Fachleute europäischer Universitäten«. Daß die Juden waren, störte ihn nicht. »Wir haben sie gepflegt, die spurten, die standen stramm, daß es nur so klapperte«.
Münchs Aufgabe war die Seuchenbekämpfung. Fleckfieber, Ruhr, Typhus brachen immer wieder aus, und seitdem SS-Leute daran starben, bestand Handlungsbedarf. Seuchenbekämpfung bedeutete in Auschwitz, »daß die ganze Baracke abgeschlossen wurde, keiner kam raus, keiner kam rein. Die ganze Mannschaft marschierte ins Gas, denn es war ja möglich, daß jeder das weiter überträgt. Das war die übliche Therapie. Die Maschine lief an, und die ganze Baracke wurde eingeschürt«. Er spricht darüber eher beiläufig, und da ist kein Zweifel und kein Gefühl.
»Hat Sie das belastet?«
»Nein, nein, überhaupt nicht, weil es die einzige Möglichkeit war, um die Sache nicht noch viel, viel schlimmer zu machen«.
»Vergasen war besser?«
»Auf jeden Fall! Auf jeden Fall! Sie dürfen niemals von dem einzelnen Fall ausgehen. Wenn man die Sache konsequent durchdenkt, war das die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, daß das Lager zugrunde geht«
Daß es dagegen nur ein Mittel geben konnte, daran glaubt Münch noch heute. »Isolierung durch Gas«. Für Münch ein humaner Akt:
»Die wären vielleicht nicht vergast worden, aber sie wären jämmerlich an Seuchen krepiert.«
Er habe sich nicht unwohl gefühlt in Auschwitz, sagt der alte Herr Münch heute. Der »ewige Außenseiter« habe »Insider sein« wollen. In Auschwitz wurde er es. Im Kreis der SS-Lagerärzte wurde er respektiert. Josef Mengele war ihm »der sympathischste Lebensgenosse. Da kann ich nur das Beste sagen«. Die beiden kamen zur selben Zeit nach Auschwitz und verließen es am selben Tag. Mengele nahm den Kindern die Köpfe, und Münch untersuchte sie ...
»Das war Alltag«, meint er heute. »Mengele und die anderen schickten uns ihr Material, Köpfe, Leber, Rückenmark, was eben so anfiel. Wir haben analysiert.«
Sich weigern? Die Idee ist ihm auch jetzt unbegreiflich. »Das war Dienst, und Schnaps war Schnaps.« ...
Münch wollte nie weg von Auschwitz. Wozu auch? »Im Hygiene-Institut war ich König. Das geht ganz schnell, ruhig an einem Platz zu leben, an dem Hunderttausende Menschen vergast werden. Das hat mich nicht belastet.« Münch rühmt Mengeles Intelligenz, seine Eleganz »in der intellektuellen Wüste von Auschwitz« ... »Es gab keine arme Juden, man mußte schon ideologisch sehr verblendet sein, um nicht zu sehen, daß die Juden viele Bereiche, besonders die ärztlichen, weit infiziert hatten.«
Am schlimmsten, meint der Bakteriologe noch heute, seien die »Ostjuden« gewesen. »Ein furchtbares Gesindel. Die waren so dressiert auf Servilität, daß man sie als Mensch gar nicht mehr qualifizieren konnte.«
Als Münch nach Auschwitz zurückkehrte, am 27. Januar 1995, stand er fahrig und ein bißchen zittrig im Blitzlicht der Fotografen. Neben sich die Frau, die als Kind die Menschenversuche seines Freundes Mengele überlebt hatte. Jene Eva Kor aus Indiana, die ihn hergebeten hatte. Nach den offiziellen Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung stellte sich Eva Kor auf die Trümmer eines Krematoriums. Sie redete über Josef Mengele, Münch stand neben ihr. Sie sprach auch über ihn, eher klagend als anklagend ...
Und dann reichte Eva Kor dem SS-Arzt die Hand und verzieh ihm, vor sich selbst und vor der Welt. Wenn er sich heute, zu Hause in Roßhaupten, an diesen Moment in Auschwitz-Birkenau erinnert, kann Münch der symbolischen Versöhnung nichts abgewinnen. »Ein pathologischer Fall, diese Frau.« Hätte »eine Mutter-Kind-Beziehung zur SS gehabt, die sie beschützt hat«.
Und dann sei da ja dieser Zwischenfall gewesen: Als alle Reden gehalten waren, die Überlebenden sich zerstreut hatten, stand nur Vera Kriegel, auch eine Überlebende der Zwillingsexperimente des Josef Mengele, noch in der Nähe von Münch. Damals vor 50 Jahren, war die vierjährige Vera in ein Labor geführt worden. Eine Wand aus präparierten Menschenaugen hatte sie angestarrt. »Dutzende Menschenaugen, mit Nadeln aufgespießt.«
Dann begannen die Experimente des Josef Mengele: Injektionen in die Augen zur Veränderung der Augenfarbe. Bei der Befreiungsfeier sah sie Münch, stand neben ihm. Irgendwann konnte sie nicht mehr. »Warum nur haben Sie das getan?« Sie schrie das mit brüchiger Stimme, ein hilfloser Aufschrei, eigentlich an niemanden gerichtet. Münch straffte sich, knirschte mit den Zähnen, wirkte gar nicht mehr alt, konnte sich gerade noch beherrschen, bis Vera Kriegel weitergegangen war. »Die Frau Kriegel ist eine von den ganz miesen Häftlingen«, hörte man ihn leise sagen, »diese widerliche kleine Jüdin. Der ging es damals doch gut. Die hat sich durchgefressen, hat sich rangeschmissen bei Mengele, nur um ihr kleines Leben zu retten.« Im Auschwitz-Prozeß in Krakau wird Münch 1947 wegen seiner Rheuma- und Malaria-Experimente als Kriegsverbrecher angeklagt.
Wenn er darüber spricht, wird sein Gesicht hart, die Hand verkrampft sich um ein Lineal: »Da marschierten sechs hysterische Weiber auf, darunter ein furchtbar giftiges Weib, die ist extra aus Amerika eingeflogen worden, und alle haben gejammert, was ich ihnen Grausiges angetan hätte«, sagte er, und das Lineal in seiner Hand zerschneidet mit kurzen Bewegungen die Luft.
»Die Malaria-Experimente waren ganz harmlos. Ich habe einen Test gemacht: Ist der Mann immun oder nicht?«
»Wie geschah das?«
Münch zögert und schüttelt den Kopf.
»Darüber brauchen wir nicht zu reden. Das war ungefährlich.«
Mehr will er darüber nicht sagen ...
Zehn Monate sitzt Münch im Krakauer Montelupi-Gefängnis in Untersuchungshaft: »Eine Reihe meiner Häftlinge hat für mich ausgesagt.« Die Richter des Obersten Polnischen Nationalgerichts attestierten Münch, daß er »den Häftlingen gegenüber wohlwollend eingestellt war, ihnen geholfen und sich selbst dadurch gefährdet hat«. Am 22. Dezember 1947 ist Hans Münch ein freier Mann. Aus dem Freispruch wächst der Mythos vom guten Menschen in Auschwitz.
Münch schildert das Verhältnis zu den 120 Häftlingen seines Kommandos als eine Lageridylle, plaudert über die »kleinen Streiche«, die er so trieb, wenn er mit den Häftlingsfrauen schwarz Orangenschnaps brannte. »Wunderbaren Orangenschnaps, absolut herrlich.« Da seien sie »fast so etwas wie eine Familie« gewesen. »Der Mann war bei der SS! Wir waren Häftlinge! Niemals waren wir eine Familie«, erinnert sich Elis Herzberger.
Der Bakteriologe war einer von Münchs Häftlingen in Auschwitz. »Sie haben uns wie Haustiere behandelt.« Münch schildert die Transporte aus Ungarn im Sommer 1944. Er erinnert sich an das Kreischen der Züge, wenn sie an der Rampe abgebremst wurden, an das dumpfe Türenschlagen, an die Schreie der SS-Männer, das grelle Licht der Scheinwerfer. Er erinnert sich, wie Häftlingskommandos, unter den Peitschenhieben der SS, die Männer und Frauen und Kinder aus den Viewaggons treiben, und die Kinderleichen, die Häftlinge aus den Waggons kratzen, sie wegtragen, so wie man tote Hühner an den Beinen faßt, immer zwei in einer Hand, die Köpfe nach unten. Über all dies redet Münch nach 53 Jahren entspannt und gelassen, und er merkt nicht, daß seine Worte eine eigene Geschichte erzählen.
»Sie müssen wissen, das Umbringen von Leuten, das war so selbstverständlich wie, daß man um soundso viel Uhr das und das zu tun hat. Man gewöhnt sich an den Alltag in Auschwitz. Auch wenn es exzessiv ist. Das geht ganz schnell, zwei, drei Tage.« ...
Und dann redet er, redet wie losgelassen und gerät dabei in den Sog seiner Erinnerungen. Daß er dabei seine eigene Legende niederreißt, merkt er es nicht? Kann er es nicht, oder ist das jetzt im Alter von 87 Jahren, »so kurz vor Torschluß«, unerheblich geworden? Er spricht von »idealer Selektion«, daß »man als Arrangeur« bei aller Oberflächlichkeit der Selektion schnell einen Blick dafür bekommen hat, für »all die kleinen Tricks« ...
Münch hat immer bestritten, selbst auf der Rampe selektiert zu haben. Als er Anfang 1944 vom Standortarzt Eduard Wirths zur Selektion aufgefordert wurde, habe er sich geweigert. Und wurde doch im Sommer 1944 zum Untersturmführer befördert.
»Warum waren Sie auf der Rampe?«
»Es hat mich interessiert, wie das abläuft. Ich hab mir das angeschaut aus Neugierde.«
Eine Neugierde, groß genug, um ein dutzendmal an der Rampe gewesen zu sein?
»So schrecklich«, sagt Münch, »war das sowieso nicht, die Selektion. Sie hatte ihre menschliche Dimension. Bei den Zuständen im Lager, da war es ein absoluter humaner Prozeß, die Leute zu selektieren. Das hat man nicht als inhuman empfunden. Sie im Lager verrecken zu lassen, das ist sicher inhumaner gewesen.«
»Haben Sie je Mitleid mit den Menschen gehabt, dort oben auf der Rampe?«
»Mitleid, das kann ich nicht sagen. diese Kategorie gab es gar nicht. Ich habe das nie analysiert. Man muß es entweder im Ganzen ablehnen, oder man muß es im Ganzen anerkennen. Es ist einfach, sich mit der Existenz von Auschwitz zu identifizieren und daran beteiligt zu sein. Wenn man mal drin war, mitten drin, dann war man auch schuldig geworden. Ich konnte aber etwas tun in meinem Bereich. Ein paar Häftlinge herauspicken, die sonst ins Gas gehen. Dadurch habe ich mir ein gutes Gewissen verschafft.«
Der Landarzt verläßt in seinen Erzählungen das anonyme »man«, spricht immer öfter von »ich« und plaudert über Lagerselektionen im Krankenbau. Und wie einfach die doch waren.
»Man ist da durchgelaufen, und dann hab ich gesagt, der und der und der. Die wurden dann am Montag auf den Lastwagen getrieben und abgefahren.«
Ins Gas. Münch ging nach der Selektion ins Krematorium, guckte sich an , wie die Aufseher die Menschen durch die Flügeltüren in die Gaskammer trieben. Sah, wie sie die Kinder hineinprügelten. Durch den Spion schaute sich Hans Münch an, wie die Menschen minutenlang nach Luft schnappten. Münch imitiert die Gesten der Sterbenden. Sein Gesicht verzerrt sich, er reißt den Mund auf, japst, schlägt die Arme über dem Kopf zusammen, verkrallt die Hände in seiner Kehle. Und dann macht er ihre Geräusche nach. Ein Summen kommt tief und langsam aus seiner Brust, dumpf und brummend, »wie das Summen in einem Bienenstock«. Und dann ist das Vergasen vorbei, die Türen werden geöffnet, und »manchmal lagen sie alle zusammengesunken da, manchmal lagen sie wie eine Pyramide aufeinander, die Kinder immer unten, zertreten.« Und »manchmal standen sie. Wie Basaltsäulen«. Darüber wundert sich Münch heute noch: Die standen.
An diesem Abend läuft im Fernsehen ein Film über Josef Mengele, seinen Freund, der ihm »absolut in jeder Weise der Sympathischste« gewesen war. Münch hört die Geschichten der überlebenden Zwillinge, sieht die Tränen, die einem Mosche Offer über das Gesicht laufen, während er erzählt, was Mengele in Auschwitz mit ihm tat, und Münch versteinert. Bewegungslos sitzt er da, mit hartem Gesicht.
»Herr Münch, Sie sagen, Mengele habe den Kindern kein Leid angetan.«
»Da steh ich absolut dazu. Er hat sie optimal behandelt.«
»Verurteilen Sie Mengele?«
»Ich kann ihn nicht verurteilen.«
Draußen ist es jetzt, bis auf den Vollmond, vollständig dunkel geworden. Dennoch ist Münch aufgestanden und hat alle Lampen gelöscht.
»Waren Sie Helfer?«
»Ein Helfer? Zu was? Daß einige durchgekommen sind oder daß die Grausamkeit von Auschwitz auf die Spitze getragen wurde, indem man auch gesunde Leute vergast hat, bloß weil sie hätten krank werden können?«
»An beidem waren Sie beteiligt?«
»Ja. Man mußte sich dazu bekennen. Aber das war gar nicht schwer.«
»Ist Hans Münch ein Täter?«
»Ja, natürlich bin ich ein Täter. Ich habe viele Leute gerettet. Dadurch, daß ich
ein paar Leute umgebracht hab.« ...
»Selektionen habe ich nur freiwillig gemacht, eben in solchen Fällen, wo ich engagiert war, und wo ich Leuten einen Gefallen tun konnte, daß ich ihnen eine Spritze geben konnte, daß sie nicht die nächsten 14 Tage überleben müssen.«
Hans Münch redet ruhig und sehr beherrscht über seine Beteiligung.
»Selektionen an der Rampe habe ich praktisch nie ... », und dann stutzt er kurz und fährt fort, »nur gesehen, nie persönlich gemacht, sondern immer nur individuell, eben im Krankenbau natürlich und bei besonderen Fragen.«
Dann schweigt er.
»Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Tut es Ihnen leid?«
»Dort gewesen zu sein? Im Nachhinein natürlich nicht.«
In seinem Bücherregal steht zwischen Konrad Lorenz und Adolf Hitlers »Mein Kampf« das Buch: »Das Leben Jesu Christi«. Plunder sei der Glaube, sagt Münch. Der Tod sei das Erlöschen einer biologischen Einheit: »Danach kommt nichts.«
Münch steht winkend vor seinem Haus, ein liebenswürdiger älterer Herr, braungebrannt, mit schlohweißem Haar. Er hat die letzte Frage gelassen beantwortet.
»Was bedeutet Ihnen Auschwitz?«
»Nichts.«
Es ist schon erstaunlich, daß es Ihnen gelungen ist, meinem 87jährigen Vater, der seit zwei Jahren zunehmend an geistiger Konzentrationsschwäche leidet, nach drei Stunden und sieben Minuten »Schindlers Liste« noch ein Interview abzuringen. Da kann es schon passieren, daß ganze Sätze falsch verstanden oder interpretiert werden, wie z.B. daß der Kater Peter eine Kätzin ist und Minka heisst.
(Der Spiegel, Nr. 42, 12.10.98)
Tageszeitung, 19.10.2001, S, 11:
Prozess 2: KZ-Arzt verurteilt
tz Roßhaupten
Der letzte noch lebende Arzt des KZ Auschwitz, Hans Münch (89), ist von einem Gericht in Paris wegen Verbreitung von Rassenhass schuldig gesprochen worden. Der frühere Offizier der Waffen-SS hatte im Rundfunk über Sinti und Roma gesagt: "Sie in die Gaskammer zu schicken war die einzige Lösung." Münch, der in Roßhaupten (Ostallgäu) lebt, leidet an Alzheimer, was ihn vor einer Strafe bewahrte."
Quelle: Der Spiegel Nr. 40/1998, S. 90ff.