2. Das »Wannsee-Protokoll«
Nächst dem Göring-Erlaß wird, sozusagen als Schlüsseldokument, für die Ausrottungsthese die Niederschrift einer Besprechung vorgewiesen, die am 20. Januar 1942 unter dem Vorsitz des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Obergruppenführer Heydrich, am Großen Wannsee Nr.56/58 stattgefunden haben soll. Teilnehmer dieser Konferenz waren eine Reihe von Staatssekretären und weitere hohe Beamte solcher Dienststellen, deren Zuständigkeit von der vorgesehenen Gesamtlösung der europäischen Judenfrage berührt wurde. Die gewöhnlich als "Wannsee-Protokoll" bezeichnete Niederschrift, die von dem Ankläger Robert M. W. Kempner im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozeß als Dokument NG-2586 vorgelegt wurde, hat folgenden Wortlaut [30]: (Faksimile übernommen aus Robert M. Kempner, Eichmann und Komplizen, Europa-Verlag, Zürich-Stuttgart-Wien, 1961.)
(Wortlaut des Wannsee-Protokolls (Abschrift))
(Neuere Dokumenten-Kritik des Wannsee-Protokolls)
Soweit das sog. "Wannsee-Protokoll", dessen vollständige Wiedergabe trotz seines Umfangs mir hier erforderlich erschien, damit dieses Dokument, dem allgemein größte Bedeutung beigemessen wird, sachgerecht beurteilt werden kann [31].
Zunächst ist festzustellen, daß die Niederschrift tatsächlich kein Protokoll im eigentlichen Sinne ist. Nach Angaben des Instituts für Zeitgeschichte, soll es sich nämlich um eine nachträgliche Niederschrift Eichmanns und seines Mitarbeiters Rolf Günther handeln [32]. Es mutet eigenartig an, daß trotzdem selbst wissenschaftlich vorgebildete Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte von einem Protokoll sprechen [33]. Denn unter einem Protokoll wird regelmäßig nur eine Niederschrift verstanden, die während eines bestimmten Vorganges (Prozeß, Konferenz o. ä.) gefertigt und von den dafür Verantwortlichen durch ihre Unterschrift als korrekte Wiedergabe dieses Vorganges bestätigt wurde. Nur ein solches Protokoll kann auch als einigermaßen beweiskräftig für den darin beurkundeten Vorgang gelten. Erst nachträglich aus der Erinnerung heraus gefertigte Niederschriften -- in der Behördensprache spricht man insoweit gewöhnlich von einem Aktenvermerk -- könnten dagegen allenfalls als Erinnerungsniederschriften bezeichnet werden. Ihnen kommt als Beweismittel im Hinblick auf Erinnerungsmängel oder Erinnerungslücken eine sehr eingeschränkte Bedeutung zu; in der Regel sind sie nur gemeinsam mit anderen Indizien beweiskräftig.
Es kann kaum einen Zweifel daran geben, daß die Bezeichnung dieser Wannsee-Niederschrift als "Protokolle den Eindruck erwecken soll, daß ihr Inhalt in jeder Hinsicht authentisch Auskunft gibt über Gegenstand. Ablauf und Ergebnisse der Wannsee-Konferenz. Jedenfalls wurde ihr diese Bedeutung beim Nürnberger Wilhelmstraßenprozeß ohne weiteres zuerkannt. Die Vertreter der Ausrottungsthese argumentieren seither selbstverständlich entsprechend. Doch erscheint es sogar fraglich, ob das Dokument in seiner vorliegenden Form überhaupt von Eichmann oder sonst einem Teilnehmer der Konferenz stammt, ob es also echt ist. Bedenken hinsichtlich seiner Echtheit ergeben sich schon aus der äußeren Form des Dokuments.
So hat bereits Professor Rassinier darauf aufmerksam gemacht, daß die Niederschrift keinen Stempel, kein Datum sowie keine Unterschrift trägt und außerdem in normaler Maschinenschrift auf nur kleinformatigem Papier vorliege [34]. Letzteres ist nun allerdings, solange das Original der Niederschrift nicht nachprüfbar ist, aus dem bei Kempner wiedergegebenen Faksimile nicht ohne weiteres zu entnehmen. An dieser Faksimile-Wiedergabe fällt jedoch besonders auf, daß im Kopfteil des Dokuments weder die Dienststelle noch das Aktenzeichen erscheint. unter dem der Vorgang bei der ihn veranlassenden Dienststelle geführt wurde. Das widerspricht jeder behördlichen Gepflogenheit und ist um so unverständlicher, weil die Niederschrift durch Stempelaufdruck als "Geheime Reichssache" deklariert wurde. Man kann wohl, ohne sich zu irren, sagen, daß ein amtliches Schriftstück einer Reichsbehörde, das -- noch dazu unter der Kennzeichnung "Geheime Reichssache" -- nicht einmal Dienststelle und Aktenzeichen der Behörde erkennen läßt, außerordentlich fragwürdig ist. Zwar enthält das Schriftstück auf der ersten Seite unten rechts die Kennzeichnung D. III. 29. g. Rs., was offenbar eine Art Aktenzeichen andeuten soll. Doch ist eine solche Kennzeichnung amtlicher Schriftstücke im deutschen Behördenwesen nicht üblich.
Das alles ist höchst merkwürdig und läßt den Gedanken an eine Fälschung nicht abwegig erscheinen, zumal da es hierfür ja zahlreiche einschlägige Beispiele gibt [35]. Trotzdem hat offenbar noch kein beamteter deutscher Historiker sich die Mühe gemacht, das Original des "Protokolls" auf seine Echtheit hin zu überprüfen. Möglicherweise haben die Historiker es noch nicht einmal zu Gesicht bekommen; jedenfalls blieb eine dahingehende Frage Heinrich Härtles bei der Historiker-Konferenz zum 30. Jahrestag des Nürnberger Tribunals, die vom 13. bis 15. 3. 1975 in Washington tagte, unbeantwortet [36]. Auch im Auschwitz-Prozeß konnte der Gutachter Krausnick nur auf die beim Institut für Zeitgeschichte in München befindliche Fotokopie der Niederschrift verweisen [37].
Gegen die Annahme, daß es sich bei diesem Dokument im ganzen um eine Fälschung handeln könnte, scheint allerdings der Umstand zu sprechen, daß der angebliche Ausrottungsplan darin nicht eindeutig formuliert wurde, wenn man dafür gerade mit diesem Dokument den Beweis führen wollte. Indessen könnte sich das daraus erklären, daß nach dem Zusammenbruch des Reichs zu viele Teilnehmer dieser Konferenz noch lebten, so daß man allzu krasse Falschaussagen über den Ablauf der Konferenz nicht wagen konnte, sondern sich auf mehr oder weniger verschwommene Andeutungen über die angeblich vorgesehene Vernichtung aller Juden beschränken mußte. Sonst wäre die Niederschrift mit den Zeugenaussagen der überlebenden Teilnehmer der Wannsee-Konferenz überhaupt nicht mehr zu vereinbaren gewesen. Denn diese bestritten übereinstimmend, daß Gegenstand der damaligen Besprechungen die Ausrottung des europäischen Judentums gewesen sei. Sie konnten sich nur daran erinnern, daß über die Deportation der Juden zum Arbeitseinsatz in den besetzten Ostgebieten gesprochen wurde. Robert M. W. Kempner behauptet zwar in seinem Buch "Eichmann und Komplizen", in dem er Auszüge aus den von ihm geführten Zeugenvernehmungen mitteilt, daß sie aus der Angst heraus, "mit dem Mordplan identifiziert zu werden", sich "aufs Leugnen verlegt" hätten [38]. Das allerdings ist eine bloße Behauptung, für deren Richtigkeit Kempner auch wieder nur auf das "Protokoll" verweisen kann. Bezeichnend ist übrigens die rüde und einschüchternde Vernehmungsweise, die Kempner- selbst ehemaliger preußischer Regierungsrat -- nach den von ihm mitgeteilten und sicherlich noch "frisierten" Vernehmungsauszügen gegenüber ehemaligen hohen Reichsbeamten anwandte. Trotzdem gelang es ihm nicht, für seine Anklage in ihrem Kreis einen Kronzeugen zu finden.
Gegen die Annahme einer Fälschung im ganzen spricht weiter die Tatsache, daß die im Dokument enthaltenen Fakten weitgehend richtig sind, wenn auch die auf Seite 6 und 7 behandelten Judenzahlen sicherlich zu hoch gegriffen sind [39]. Doch braucht auch der Inhalt eines im ganzen gefälschten Dokuments nicht in jeder Hinsicht falsch zu sein. Etwaige Fälscher konnten sich zweifellos ohne Schwierigkeit über zahlreiche Punkte, die bei der Konferenz tatsächlich angesprochen wurden, die erforderliche Gewißheit verschaffen und ihre Fälschung darauf abstellen.
Doch mag die Frage, ob das Dokument im ganzen eine Fälschung ist, auf sich beruhen [40]. Jedenfalls halte ich es für sicher, daß Teilabschnitte des "Protokolls" für Nürnberger Gerichtszwecke und für die spätere Geschichtsschreibung erst nachträglich eingefügt, weggelassen oder verändert wurden. Daß das bei einem mit einer gewöhnlichen Schreibmaschine geschriebenen und nicht unterzeichneten Dokument ohne weiteres möglich ist, liegt auf der Hand. Denn ein Schriftstück, das keinen durch eine oder mehrere Unterschriften gekennzeichneten Abschluß enthält, kann sowohl beliebig ergänzt als auch in einzelnen Zwischenteilen verändert oder gekürzt werden. Ganze Absätze lassen sich unschwer einfügen oder ausmerzen, ohne daß dies auf den ersten Blick zu erkennen wäre. Eine Schreibmaschine mit einem dem Original entsprechenden Schriftbild wird sich für gewünschte Veränderungen leicht beschaffen oder auch besonders herstellen lassen. Nur unter Zuhilfenahme kriminalistischer Untersuchungsmethoden dürfte eine solche Fälschung einwandfrei aufzudecken sein, wenn sich nicht -- wie es beim Wannsee-Protokoll der Fall ist -- schon aus ihrem Inhalt heraus der entsprechende Nachweis führen läßt.
Trotz der bereits aus äußeren Gründen bestehenden Fragwürdigkeit der Niederschrift, die in ihrer ganzen Form nicht der deutschen amtlichen Praxis entspricht, hat es aber anscheinend bis heute noch niemand unternommen, das "Dokument" wenigstens von seinem Inhalt her auf seine Authentizität hin zu untersuchen. Nicht einmal die hierzu berufenen "Historiker" des Instituts für Zeitgeschichte haben diese Frage in ihren für den Auschwitz-Prozeß erstatteten Gutachten aufgeworfen. Sie haben die Echtheit des "Dokuments" in seinem ganzen Inhalt einfach unterstellt und dann frisch drauflos interpretiert. Mit Wissenschaftlichkeit hat ein derartiges Vorgehen gewiß nichts zu tun, zumal da den Gutachtern die von dem französischen Historiker Paul Rassinier angemeldeten und begründeten Zweifel an der Echtheit des Dokuments nicht unbekannt gewesen sein können [41]. Wissenschaftlichkeit setzt zumindest voraus, daß man sich auch mit Gegenmeinungen auseinandersetzt und diese nicht einfach schweigend übergeht, wie jene es grundsätzlich handhaben, die die Judenvernichtung als Tatsache hinstellen.
Wenn man davon ausgeht, daß über den Ablauf der Wannsee-Konferenz tatsächlich eine amtliche Niederschrift gefertigt wurde, so ergibt eine kritische Betrachtung der von Kempner vorgelegten Niederschrift, daß sie zumindest teilweise nicht echt sein kann. Einige Abschnitte passen nicht in das Gesamtbild und können daher, wenn die Niederschrift als solche echt ist, nur nachträglich in diese eingefügt worden sein. Bei den Formulierungen anderer Abschnitte kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß hier nachträgliche Veränderungen des ursprünglichen Textes vorgenommen wurden.
So soll Heydrich zufolge Abschnitt II der Niederschrift den Teilnehmern der Konferenz einen zusammenfassenden Rückblick auf die bisherigen Maßnahmen zur "Zurückdrängung" [42] der Juden aus dem deutschen Lebensraum gegeben haben. Bei der Wiedergabe seiner Ausführungen wird aber nur die Auswanderungspolitik erwähnt, nicht dagegen die vielfältigen Bemühungen der Reichsregierung, den Juden einen eigenen Staat in Madagaskar zu schaffen. Das ist besonders auffällig, wenn man bedenkt, daß der Plan der Schaffung eines Judenstaats in den Überlegungen deutscher Regierungsstellen mehrere Jahre hindurch eine hervorragende Rolle gespielt hatte und -- wie gezeigt wurde -- auch im damaligen Zeitpunkt noch keineswegs aufgegeben war (vgl. oben Seite 37). Heydrich wird daher bei seinem Rückblick auf die bisherige Judenpolitik gewiß nicht vergessen haben, diesen Plan ebenfalls zu erwähnen. Freilich könnte Eichmann, wenn die ursprüngliche Niederschrift tatsächlich von ihm stammen sollte, die Erwähnung dieses Plans vergessen haben. Das ist aber unwahrscheinlich, weil er selbst damit ja maßgebend befaßt war [43]. So erscheint es denn nicht ausgeschlossen, daß der den Madagaskarplan behandelnde Teil der ursprünglichen Niederschrift bei deren "Bearbeitung" weggelassen wurde, um zu verhindern, daß die Identifizierung des mehrfach in der Niederschrift auftauchenden Begriffs "Endlösung" mit dem Plan eines Judenstaates offenbar wurde.
Ferner soll Heydrich seine rückblickenden Ausführungen mit dem Hinweis beschlossen haben, daß Himmler nunmehr die Auswanderung der Juden "im Hinblick... auf die Möglichkeiten des Ostens" verboten habe. Diese verschwommene Anspielung auf unbestimmte "Möglichkeiten" ist möglicherweise ebenfalls erst nachträglich in das Dokument hineingefälscht worden, um seine Interpretation als "Vernichtungsplan" zu erleichtern. Sollte Heydrich in diesem Zusammenhang wirklich nicht auch davon gesprochen haben, daß die Juden -- wie zahlreiche Dokumente beweisen -- für die im Osten vorgesehene Rüstungsindustrie dringend als Arbeitskräfte benötigt wurden?
Unter Abschnitt III der Niederschrift heißt es dann weiter, daß anstelle der Auswanderung nunmehr "als weitere Lösungsmöglichkeit" die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten sei (Absatz 1 aaO.) und daß hierbei "bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt" würden, die im Hinblick auf die kommende "Endlösung der Judenfrage" von wichtiger Bedeutung seien (Absatz 2 aaO.). Berücksichtigt man, daß deutscherseits unter der "Endlösung" -- wie ausgeführt wurde niemals Ausrottung, sondern mindestens seit den Anfängen des Madagaskarplans stets nur die Ansiedlung der Juden in einem eigenständigen Judenstaat verstanden wurde, so erscheint diese Stelle der Niederschrift allerdings kaum auffällig oder bemerkenswert. Die geschlossene Ansiedlung der Juden in einem eigenen Staat warf natürlicherweise zahlreiche Probleme auf, deren Realisierbarkeit in den besetzten Ostgebieten z. B. bei der Einrichtung von Ghettos -- erprobt werden konnte. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, daß der zweite Absatz des Abschnitts III ("Diese Aktionen..." bis "... von wichtiger Bedeutung sind.") nachträglich in das Dokument eingeschoben wurde, um unter Zuhilfenahme der üblichen Gleichsetzung des Begriffs "Endlösung" mit "planmäßiger Judenausrottung" die Vorstellung zu suggerieren, als sei hier die Erprobung von verschiedenen Tötungsmöglichkeiten ins Auge gefaßt worden. So vermutet denn auch Krausnick in seinem Auschwitz-Gutachten "hinter dieser tarnenden Sprache" den Gedanken, "bei der Vernichtung von Teilen der deportierten Juden... Experimente zu machen, die sich für die in großem Maßstab geplante Ausrottung verwerten ließen"[44]. Diese Ausführungen Krausnicks sind übrigens ein sehr anschauliches Beispiel für die auch sonst in der Literatur über die KL immer wieder anzutreffenden Unterstellungen, Vermutungen und "praktischen" Kurzschlüsse, mit denen man die These von der geplanten Judenausrottung zu "beweisen" sucht. Bei Weglassung dieses Absatzes liest sich das Dokument jedenfalls wesentlich sinnvoller, zumal wenn man in diesem Zusammenhang die oben erwähnte Rademacher-Anweisung (vgl. Seite 37) heranzieht.
Alle diese Fragwürdigkeiten sind indessen nicht von ausschlaggebender Bedeutung, weil die Ausrottungsthese vor allem und so gut wie allgemein aus zwei anderen Absätzen des Dokuments hergeleitet wird, die gewöhnlich auch nur allein und außerhalb ihres Zusammenhangs zitiert werden. Insbesondere diese Passagen wirken, wenn man die Niederschrift im ganzen betrachtet, darin als Fremdkörper, so daß es sich zumindest bei diesem Teil der Niederschrift um eine Fälschung handelt.
Es erscheint zweckmäßig, sich die betreffenden beiden Absätze hier noch einmal besonders vor Augen zu halten. Sie finden sich auf den Seiten 7 und 8 der Niederschrift und lauten folgendermaßen:
"Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen. unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.
Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.
(Siehe die Erfahrung der Geschichte.)"
Mit Ausnahme des ersten Satzes im ersten Absatz passen beide Absätze nicht in den Rahmen der übrigen Niederschrift, abgesehen von der inhaltlichen Unklarheit des zweiten Absatzes, der für die Niederschrift einer so wichtigen Besprechung zumindest ungewöhnlich ist. Gegen die Authentizität dieser Stelle der Niederschrift hat bereits Rassinier Bedenken erhoben [45]. Er behauptet, daß beide Absätze in der Niederschrift selbst nicht auf einander folgten und auch in der Presse der erste Absatz von dem zweiten Absatz durch Pünktchen getrennt wiedergegeben worden sei. Rassinier behauptet demnach nichts weniger, als daß die Stelle nicht vollständig wiedergegeben sei. Das Original des Wannsee-Protokolls scheint ihm allerdings auch nicht vorgelegen zu haben. da er sonst wohl den nach seiner Behauptung fehlenden Teil zitiert hätte. Ich selbst habe für diese Behauptung keine Bestätigung finden können. Sollte sie allerdings stimmen, so dürfte neben der von Kempner in Umlauf gebrachten Fassung der Niederschrift noch eine weitere abweichende Fassung in Umlauf gebracht worden sein. Darüber hinaus meint Rassinier, die beiden Absätze seien nicht in demselben Stil verfaßt, stammten also nicht von demselben Verfasser. Das allerdings wird kaum nachzuweisen sein, wenn auch auffällt, daß der zweite Absatz sich insbesondere durch seine überaus schwülstige, verschwommene Sprache vom übrigen Inhalt des Dokuments deutlich abhebt. Im ganzen genommen können diese Argumente Rassiniers indessen noch nicht davon überzeugen, daß das Dokument an dieser Stelle manipuliert wurde.
Betrachtet man jedoch die beiden Absätze in dem Zusammenhang, in dem sie stehen, so ist unverkennbar, daß sie mit dem übrigen Text des Dokuments unvereinbar sind. Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, daß sie gewöhnlich aus dem Zusammenhang gerissen und für sich allein zitiert werden. Nur so können kritische Leser über den wahren Inhalt der Niederschrift getäuscht werden. Zweifellos liegt hier eine schwerwiegende Nachlässigkeit der Fälscher vor, die ihre in das Dokument hineingefälschte Aussage nicht sorgfältig genug mit dem übrigen Text abgestimmt haben.
Wenn es im ersten der beiden Absätze heißt, die Juden sollten "in großen Arbeitskolonnen... straßenbauend in diese Gebiete geführt" werden, so ist dieser Satz unverständlich, weil vorher an keiner Stelle gesagt ist, welche Gebiete des Ostens damit gemeint sein könnten. Dieser Satz steht also in keinem Zusammenhang mit dem vorhergehenden Text. Zum andern stimmt er auch mit der damaligen Wirklichkeit nicht überein, weil tatsächlich kein einziger Fall bekannt ist, in dem Juden "straßenbauend" nach dem Osten evakuiert worden wären. Im Widerspruch hierzu steht ferner der erste Satz dieses Absatzes, wonach die Juden "in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen" sollten, was übrigens -- wie bereits mehrfach hervorgehoben wurde -- durch den Inhalt zahlreicher Dokumente über den Einbau der Juden in die Kriegswirtschaft bestätigt wird. Dieses Vorhaben schloß es aus, die arbeitsfähigen Juden zunächst durch die Strapazen der Überführung in die Ostgebiete zum größten Teil zu dezimieren und den verbleibenden Rest dann ebenfalls zu liquidieren. So jedenfalls werden die Worte "entsprechend behandelt" von den Vertretern der Ausrottungsthese übereinstimmend interpretiert, obwohl die Stelle zweifellos auch andere Auslegungen zuließe [46].
Schon hieran wird die ganze Fragwürdigkeit dieser Stelle der Niederschrift deutlich. Vollends unverständlich werden die beiden in Betracht stehenden Absätze aber, wenn man den daran anschließenden Absatz auf Seite 8 der Niederschrift hinzunimmt. Er lautet wie folgt:
"Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden."
Ein "Transport" der Juden nach dem Osten, ist sicherlich etwas anderes als sie "straßenbauend" dorthin zu führen, wie wenige Absätze zuvor gesagt wird. Auch von einem Teilnehmer der Konferenz, dem Staatssekretär Bühler, wurde laut Seite 14 der Niederschrift das "Transportproblem" nochmals angesprochen, was nicht erforderlich gewesen wäre, wenn man die Juden straßenbauenderweise in die Ostgebiete führen wollte. Dieser Widerspruch ist unübersehbar und wäre bei einer in allen Teilen wirklich authentischen Niederschrift einer so wichtigen Konferenz undenkbar. Daraus ergibt sich zwingend, daß die immer wieder als Beweis angeführten beiden Absätze auf den Seiten 7 und 8 der Niederschrift nicht oder nicht in dieser Form in dem ursprünglichen, echten Dokument enthalten gewesen sein können, zumal die dort unterstellten Absichten sonst an keiner Stelle der Niederschrift Ausdruck gefunden haben. Insbesondere der Absatz, in dem von dem "allfällig endlich verbleibenden Restbestand" (welch' geschwollene Ausdrucksweise!) die Rede ist, erweckt schon wegen der unklaren Formulierung Zweifel an seiner Echtheit. Wenn nämlich, wie immer wieder -- insbesondere von Kempner- behauptet wird, alle Teilnehmer der Konferenz wußten, daß hier über die Judenausrottung gesprochen wurde, dann ist unverständlich, warum Heydrich sich in dieser sphinxhaften Sprache ausdrückte. Albert Wucher allerdings erklärt die ganzen Fragwürdigkeiten des Dokuments so [47]:
"Ganz schlüssig, wie die einfachste Lösung aussehen sollte, wurde man sich an diesem 20. Januar am Großen Wannsee noch nicht -- wenn man vom Chef des Sicherheitsdienstes und seinem Reichssicherheitshauptamt absieht."
Mit anderen Worten also: Nur Heydrich wußte, was er wollte, sagte es aber nicht. Was sollte dann aber die ganze Konferenz?
Im übrigen läßt sich auch hier wieder die Probe aufs Exempel machen, indem man die fragwürdigen Sätze aus der Niederschrift streicht. Läßt man nämlich den Abschnitt von "In großen Arbeitskolonnen..." bis "(Siehe die Erfahrung der Geschichte.)" einfach weg, so fehlt keineswegs der Zusammenhang. Vielmehr liest sich die Niederschrift sogar erst danach sinnvoll, während der weggelassene Teil vorher offensichtlich den Zusammenhang störte. Der Wortlaut der Niederschrift von Seite 7 letzter Absatz bis zum dritten Absatz der Seite 8 einschließlich würde dann folgender sein:
"Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.
Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa vom Westen nach Osten durchgekämmt. Das Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren wird, allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten, vorweggenommen werden müssen.
Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach dem Osten transportiert zu werden. "
Nur in dieser Fassung steht die Niederschrift auch mit den zahlreichen Dokumenten aus jener Zeit im Einklang, in denen zum Ausdruck kommt, daß alle Häftlinge -- auch die Juden -- dringend für die Kriegswirtschaft benötigt wurden, die nach Eroberung der Ostgebiete zunehmend dorthin verlagert wurde. Es ist unmöglich, alle diese Dokumente hier im einzelnen zu behandeln [48]. Nur ein Dokument mag wegen seiner besonderen Zeitnähe und seines unverkennbaren Zusammenhangs mit der Wannsee-Konferenz besonders erwähnt werden. Es handelt sich um das auch bei Reitlinger erwähnte Nürnberger Dokument NI-500, ein Fernschreiben Himmlers an den damaligen Inspekteur der KL, SS-Gruppenführer Glücks, vom 26. Januar 1942, in dem es heißt [49]:
"... Richten Sie sich darauf ein, in den nächsten 4 Wochen 100.000 männliche Juden und bis zu 50.000 Jüdinnen in die KL aufzunehmen. Große wirtschaftliche Aufgaben werden in den nächsten Wochen an die Konzentrationslager herantreten... "
Es wirkt reichlich verkrampft, wenn Reitlinger versucht, hieraus einen Gegensatz zwischen Himmler und Heydrich zu konstruieren, indem er Heydrich die Verantwortung für den Beginn der Ausrottung zuschiebt, während er Himmler als nur am Arbeitseinsatz der Juden interessiert hinstellt [50]. Ähnlich argumentiert Prof. Broszat vom Institut für Zeitgeschichte in seinem Auschwitz-Gutachten. Auch er wird offensichtlich nur schwer mit diesem Dokument fertig. Er meint, die arbeitsfähigen Juden seien von Himmler nur vorläufig von der vorgesehenen Vernichtung ausgenommen worden. Andererseits spricht er jedoch wieder von einem "Neben- und Gegeneinander der beiden Zwecke", nämlich der angeblich vorgesehenen Vernichtung aller Juden und ihrer Heranziehung zum Arbeitseinsatz [51].
Das sind nun allerdings mehr als dürftige Erklärungsversuche eines unbestreitbaren Tatbestandes, der nicht in das Ausrottungskonzept paßt. Selbst Krausnick muß in seinem Gutachten zum Auschwitz-Prozeß zugeben, daß auch Juden noch bis in das letzte Kriegsjahr hinein in der Rustungsindustrie beschäftigt und aus den polnischen Lagern sogar noch 1944 "Zehntausende von Juden nach Deutschland verschleppt" wurden [52]. Wenn man von dem dramatischen Ausdruck "verschleppt" absieht, so entsprach das durchaus der Wirklichkeit, die es damals erforderte, Rüstungsarbeiter aus dem Osten wieder ins Reich abzuziehen. Man spürt bei all diesen "Erklärungen" förmlich die Verlegenheit, die allen Vertretern der Ausrottungsthese die zahlreichen Dokumente über den Arbeitseinsatz der Juden bereiten. Übrigens dürfte kaum zu bezweifeln sein, daß im letzten Kriegsjahr mit Sicherheit keine Juden mehr im deutschen Machtbereich gelebt hätten, wenn "Endlösung" wirklich die Vernichtung aller Juden bedeutet hätte.
Die Tatsache, daß die nach dem Osten deportierten Juden in der dortigen Kriegswirtschaft Verwendung finden sollten [53], stimmt auch damit überein, daß Heydrich der Wannsee-Niederschrift zufolge weiter ausführte, es sei beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto zu überstellen (Seite 8, vorletzter Absatz). Hätte man die Vernichtung aller Juden vorgehabt, so war es unverständlich, alte Juden hiervon auszunehmen und ihnen eine Vorzugsbehandlung zukommen zu lassen. Dies um so mehr, als man angeblich ohnehin an Massenexekutionen dachte, wobei es auf einige Tausend mehr oder weniger nicht angekommen wäre. Wenn man jedoch, woran kein Zweifel besteht, die Juden zum Arbeitseinsatz bringen wollte, so war es durchaus sinnvoll, Juden über 65 Jahre, von denen naturgemäß keine Leistungen mehr zu erwarten waren, hiervon auszunehmen. Daß diese Maßnahme auch für schwerkriegsbeschädigte Juden und Träger von Kriegsauszeichnungen gelten sollte (Seite 8 letzter Absatz der Niederschrift), paßt ebenfalls nicht zu der der Wannsee-Konferenz angedichteten Vernichtungsplanung. Wenn weiter in der Niederschrift davon gesprochen wird, daß mit "dieser zweckmäßigen Lösung... mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet" würden, so zeigt das deutlich, daß man wegen der evakuierten Juden im allgemeinen keine solchen Interventionen erwartete, insoweit also ein durchaus gutes Gewissen gehabt haben muß. Das wäre zweifellos nicht der Fall gewesen, wenn diese Evakuierungen zum Zwecke der Tötung der davon betroffenen Juden vorgenommen werden sollten. Dieser Teil der Niederschrift spricht also sogar ziemlich eindeutig gegen die Ausrottungsthese.
Die Vertreter der Ausrottungsthese -- wie z.B. der Auschwitz-Gutachter Krausnick -- können dem allen nur mit der Behauptung begegnen, das seien eben "taktische Maßnahmen" gewesen. Krausnick weist überdies auf die "bezeichnende Unterscheidung" hin, die Heydrich der Niederschrift zufolge zwischen "evakuieren (d. h. zu töten)" und "einem Altersghetto überstellen" gemacht habe [54]. Diese Wortklauberei, bei der zudem der eine Begriff noch willkürlich als "töten" gedeutet wird, hat nun freilich mit Wissenschaftlichkeit gewiß nichts mehr zu tun.
Der weitere Inhalt des "Wannsee-Protokolls" steht mit der Ausrottungsthese offensichtlich in keinem Zusammenhang. Über die Zweckmäßigkeit oder die moralische Berechtigung der Behandlung des Mischlingsproblems, wie sie unter Abschnitt IV der Niederschrift abgehandelt wird, mag man streiten. Die uns hier allein interessierende Ausrottungsthese wird jedenfalls hiervon nicht berührt. Das gilt auch für den vorletzten Absatz der Niederschrift, der mitunter noch zu ihrer Stützung herangezogen wird, wobei man auch hier immer daran zu denken hat, daß das "Wannsee-Protokoll" grundsätzlich in seinem ganzen Inhalt fragwürdig bleibt.
Diesem vorletzten Absatz zufolge (Seite 15 der Niederschrift) wurde bei der Konferenz abschließend noch über "die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten" gesprochen und dabei von einigen Teilnehmern der Standpunkt vertreten, "gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse". In diesem Zusammenhang wird natürlich wieder einmal das Wort "Endlösung" als Synonym für "Vernichtung" in Anspruch genommen, was es eben nicht war. Ferner werden die "Lösungsmöglichkeiten" als "Tötungsmöglichkeiten" interpretiert, wofür es keinen Anhaltspunkt gibt. Allerdings soll- wie Krausnick in seinem AuschwitzGutachten behauptete -- Eichmann im Jerusalemer Prozeß den Ausdruck "Lösungsmöglichkeiten" selbst in dieser Weise interpretiert haben. Krausnick bleibt jedoch für diese -- unwahrscheinliche -- Behauptung jeden Beleg schuldig [55].
Da sich aus dem vorhergehenden Absatz der Wannsee-Niederschrift ergibt, daß in diesem Stadium der Konferenz über die "Lösung der Judenfrage im Generalgouvernement" gesprochen wurde, wird man nicht fehlgehen in der Annahme, daß sich die "Lösungsmöglichkeiten" allein hierauf bezogen. Es wird sich also um die verschiedenen Möglichkeiten der vorgesehenen Evakuierung auch dieser Juden gehandelt haben. Daß die Bevölkerung der betroffenen Gebiete allein schon durch die Evakuierung als solche beunruhigt werden konnte, ist selbstverständlich und beweist in diesem Zusammenhang tatsächiich alles andere als das behauptete Vernichtungsvorhaben. Die sich im Zuge der "Endlösung" ergebenden Probleme der Organisation des Zusammenlebens der Juden in einem gemeinsamen Staatswesen konnten zweckmäßigerweise schon bei der Evakuierung erprobt werden, indem man vorübergehend die Juden in einem Ghetto zusammenfaßte. So ist bekannt, daß das Warschauer Ghetto lange Zeit hindurch ein eigenes Gemeinwesen darstellte [56].
Zusammenfassend kann festgesellt werden, daß das sog. WannseeProtokoll -- selbst wenn man es nicht als im ganzen gefälscht ansehen will -- neben zumindest inhaltlich echten Bestandteilen eine Reihe von Sätzen enthält, die in den Zusammenhang nicht hineinpassen und deshalb nachträglich in das Dokument hineingefälscht worden sein müssen. Daneben sind vermutlich einige echte Teile des Dokuments (z. B. Ausführungen über den Madagaskarplan) nachträglich daraus entfernt worden. Abgesehen hiervon bleibt das Dokument aber allein schon deshalb fragwürdig, weil seine Herkunft im Dunklen liegt, seine äußere Form in keiner Weise deutscher Behördenpraxis entspricht und das Original bisher noch nicht von unabhängigen Sachverständigen auf seine Echtheit hin überprüft werden konnte [57]. Damit ist das Dokument als Beweismittel jedenfalls insoweit ungeeignet, als dadurch die These von der geplanten Ausrottung aller im deutschen Machtbereich befindlichen Juden belegt werden soll. Hierfür bietet das Dokument selbst in seinem vorliegenden Inhalt keinen ausreichenden Anhaltspunkt. Denn von "Ausrottung" oder gar "Vergasung" der Juden ist in dem ganzen Dokument kein Wort zu finden, und die hierfür herangezogenen Teile der Niederschrift lassen sich auch anders interpretieren, sobald man nicht den Begriff "Endlösung" ohne weiteres für "Ausrottung" nimmt.