RITTER, TOD UND TEUFEL

Der Teilbereich der Geschichte des Dritten Reiches, der die größte Zahl von Abhandlungen, Kommentaren und Mediendramen evoziert hat, ist wahrscheinlich der Bereich der Konzentrationslager. Es hat sich herausgestellt, daß er für den Verleger eine große Freude, für den Statistiker ein Alptraum ist. Fakten und Zahlen finden sich verstreut in kleinen Fächern in verschiedenen öffentlichen und privaten Archiven und, bekanntlich, sind sie unvollständig. Die Historiker sind nicht an Quellenmaterial gebunden, und das Wuchern anekdotischer Berichte, das dem Wuchern des Seetangs gleicht, hat auf alles andere den Blick verstellt.

Müller wußte sehr viel über die Struktur und Funktion des Lagersystems. Es wurde von einer anderen SS-Abteilung verwaltet, aber Müller erhielt regelmäßige und sehr genaue Berichte über alle Insassen des gesamten Lagersystems. Wenn die Gestapo z. B. jemanden festgenommen hatte, und dieser von einem Gericht für schuldig befunden und zu Gefängnis verurteilt worden war, wurde Müller stets unterrichtet, wenn die Haftstrafe vorüber war. Er hatte dann die Möglichkeit, den Betreffenden wieder festnehmen und einsperren oder laufen zu lassen. Seine Akten sind voller Hinweise auf Entlassung, Umverlegung, Tod und offizielle Hinrichtung von Menschen in allen Lagern. Im Anhang findet sich ein Beispiel (Anlage II, S. 312). Es handelt sich um den Bericht des Lagerkommandanten von Groß-Rosen über sowjetische Kriegsgefangene, in diesem Fall Politkommissare, die von der Wehrmacht ins Lager eingewiesen wurden, um dort befehlsgemäß hingerichtet zu werden.

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Müller erhielt auch von der Lageraufsichtsstelle die monatlichen statistischen Berichte. Sie enthielten die Anzahl der Insassen eines Lagers, die Zahl der Verlegungen und Toten, jeweils im Rhythmus von 30 Tagen. Diese Berichte erstrecken sich von 1938 bis Anfang 1945.

Ein Bereich, an dem die Arbeitgeber Müllers nach dem Krieg besonders interessiert waren, war der Bereich des Lagersystems und die Rolle, die Müller dabei gespielt hatte. Es gab in den Gesprächen keine offene Kritik an seiner Tätigkeit. Aber es bestand der starke Wunsch herauszufinden, ob irgendetwas Unangenehmes auftauchen könnte, das seine Beschäftigung noch schwieriger machen würde, als sie schon war. Dazu finden sich folgende Gesprächsnotizen in den Protokollen:

F: Wir müssen wissen, wie Sie zur Judenfrage standen. Es gab eine sehr beachtliche negative Aufmerksamkeit hinsichtlich der Vernichtung großer Mengen von Juden durch die SS in besonderen Lagern. Ein Massenvernich-tungsprogramm. Können Sie uns sagen, in welchem Verhältnis Sie zu diesem Bereich standen und angeben, ob Sie dort irgendwelche Verantwortung hatten?

M: Selbstverständlich. Lassen Sie mich etwas zum geschichtlichen Hintergrund beitragen, wenn Sie nichts dagegen haben.

F: Nein. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihre Sicht der Geschichte vortragen. Bitte fahren Sie fort, wie Sie es wünschen.

M: Danke. Die antisemitische Lage in Deutschland hat sich nicht erst seit 1933 entwickelt, aber ich gebe zu, daß sie später außer Kontrolle geriet. Lassen Sie mich wiederholen, was ich eingangs sagte, daß ich kein Antisemit bin. Ich wurde aufgefordert, 1941 das Kommando einer der Einsatzkommandos im Osten zu übernehmen. Ich lehnte

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ab. Der Antisemitismus spielte in Deutschland vor dem Krieg, vor 1914, keine Rolle. Es gab einige kleine Gruppen, welche die Juden nicht mochten, aber man schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Der Kaiser selbst hatte damals viele jüdische Freunde. Nach dem Krieg und dem Aufkommen der Bolschewiken in Rußland und in Deutschland ärgerten sich die meisten Menschen in Deutschland über die Juden, weil alle revolutionären Handlungen in Deutschland von Juden angeführt wurden. Dann hatte Pilsudski eine große Menge von Juden von Polen nach Deutschland gedrängt. Die meisten dieser Juden gingen nach Berlin und Hamburg und stiegen ins Geschäftsleben ein. Die meisten konnten kein Deutsch und brachten ihre Verwandten und Freunde mit. Bei all den wirtschaftlichen Problemen der damaligen Zeit war es einfach, leicht erkennbare Ausländer dafür verantwortlich zu machen. Hitler, der im allgemeinen die Juden sicherlich nicht mochte, benutzte diese Abneigung den Juden gegenüber in seinen frühen Wahlkämpfen. Ich glaube, er hatte mehr gegen jüdische Sozialisten im Reichstag während des Krieges als gegen jüdische Kaufleute in Berlin. Obwohl er die Juden nicht mochte und sie aus Deutschland hinauswerfen wollte, war er nicht so unduldsam, wie das erscheinen mochte. In seiner Regierung waren Juden, einige in Machtstellungen. Nehmen Sie z. B. Milch. Er stand an der Spitze der Lufthansa und war zweifelsohne Halbjude. Ich weiß das, weil ich darüber einen Bericht anzufertigen hatte. Und Hitler wußte es. Aber er ließ ihn bis zum Rang eines Feldmarschalls der Luftwaffe aufsteigen und verlieh ihm sogar das goldene Parteiabzeichen. So viel zu Milch.

Auch Heydrich soll jüdisches Blut gehabt haben. Ob das nun stimmte oder nicht, Hitler hörte sicherlich von diesen

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Gerüchten und verstieß Heydrich nicht. Und Göring hatte ebenfalls keine Schwierigkeiten mit Juden. Er kaufte ihnen eine Menge Kunstgegenstände ab. Seine Frau war beim Theater, und so kannten beide Juden. Und ich weiß persönlich, daß Göring vielen Juden geholfen hat, Deutschland zu verlassen. Goebbels andererseits haßte alle Juden und war mehr als entschlossen, so viele von ihnen umzubringen, wie er konnte. Er war Gauleiter in Berlin mit großen Vollmachten. Doch die letzten Zahlen, die ich 1945 von Berlin sah, zeigten auf, daß über die Hälfte der Juden, die in der 30er Jahren dort lebten, bei Kriegsende noch immer da waren. Als Hitler 1938 das Sudetenland mit dem Abschluß des Münchener Abkommens unter seine Kontrolle bekam, beschloß man, alle Juden aus diesem Gebiet zu vertreiben und die Tschechen zu zwingen, sie aufzunehmen. Die Tschechen wollten die Juden nicht, aber Hitler zwang sie dennoch. So bald dies geschah, entstand in Polen ein Aufruhr. Wenn jemand die Juden wirklich haßt, dann sind es die Polen. Zuerst war es ihnen gelungen, eine beachtliche Zahl ihrer Juden rauszuwerfen. Aber nun sah es so aus, als würden die Länder, die sie jetzt hatten, diese wieder zurückschicken. Ich glaube, es war im Oktober 1938, als die Polen ein Gesetz verabschiedeten, das vorsah, daß polnische Bürger, die eine gewisse Zeit im Ausland gelebt hatten, nicht ohne einen Sonderstempel in ihrem Paß nach Polen zurückkehren konnten. Natürlich konnten Juden diesen Stempel nicht bekommen. Und die Polen sagten, daß ein Pole ohne diesen Stempel kein Pole mehr war, also keine Staatsangehörigkeit besaß. Als Heydrich davon hörte, ließ er sofort alle polnischen Juden, die er finden konnte, einsammeln, diese Juden waren, wie ich schon sagte, staatenlos, und verfrachtete sie zurück in Richtung Polen. Was er tat, war

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rechtens, denn sie besaßen keine gültigen Papiere. Illegale Ausländer nennt man solche Leute. Aber die Polen wollten sie nicht zurücknehmen. Und so saßen sie in den Zügen zwischen Deutschland und Polen. Ich möchte darauf hinweisen, daß niemand diese polnischen Juden haben wollte, niemand. Selbst Ihr Präsident nicht. Roosevelt lehnte es ab, sie in Amerika aufzunehmen. Auch Frankreich und die Balkanstaaten lehnten ab. Jedenfalls ging nach der Rückführung im Jahr 1938 ein Verwandter dieser Familien in unsere Botschaft in Paris, um den Botschafter zu töten. An seiner Stelle tötete er einen Untergebenen. Die Nachricht davon erreichte Hitler, als er mit der Parteielite bei den Feierlichkeiten zum 9. November in München weilte. Ein Pogrom brach in ganz Deutschland aus: Viele Fenster wurden zertrümmert, Gebäude niedergebrannt und Juden wurden mißhandelt. Als dies Hitler zu Ohren kam, ließ er ihn sofort beenden. Der Schaden war indes bereits entstanden, und unser Ansehen in der ganzen Welt war geschädigt worden.

F: Hat Hitler die Übergriffe befohlen?

M: Nein. Goebbels hat sie befohlen. Jedermann, mich eingeschlossen, protestierte. Aber Hitler unternahm gegen Goebbels nichts. Goebbels war einige Zeit in Ungnade gefallen, aber er genoß dann wieder Hitlers Gunst. Ich war immer der Meinung, Hitler sollte Goebbels feuern. Aber er tat es nicht. Und niemand konnte etwas tun. Die offizielle Politik von Heydrich und des Sicherheitsdienstes war es, die Juden zur Auswanderung in andere Länder zu zwingen. Wie ich schon zuvor sagte: Niemand anderswo wollte sie haben.

Der SD stand in Verbindung mit den Zionisten, die Juden in Palästina waren an dieser Verbindung interessiert, um dort ihren zionistischen Staat aufzubauen. Sie wollten sie

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aufnehmen, aber denken sie daran, daß die Briten in Palästina das Sagen hatten, und die dortigen Araber wollten die Juden überhaupt nicht. Sie alle beklagten sich bei Ribbentrop, der sofort zu Hitler rannte und sagte, die SS würde seine Außenpolitik sabotieren. Auch Bormann und seine AO, Auslandsorganisation*, stifteten dort auch viel Unruhe. In der Tat wurden einige Juden nach Palästina geschickt, aber schließlich drohten die Briten, die Fahrgastschiffe zu versenken, und übten auf Hitler diplomatischen Druck aus, damit er die Einwanderung unterband. Die Briten behielten diese Haltung den ganzen Krieg über bei. Seitens der SS bestand der Plan, alle Juden in den Lagern nach Palästina oder in irgendein Aufnahmeland zu verbringen. Aber die Briten blockierten alles. Irgendeiner sagte so etwas wie ›Niemand wolle so viele polnische Juden!‹** Sie hätten einige hundert deutsche oder dänische Juden genommen, aber nicht mehrere Hunderttausend polnische Juden. Natürlich bejammerten die Briten nach Kriegsende lauter als alle anderen diese armen Juden, von denen nun die meisten tot waren. Ich stand an der Spitze des Auswanderungsamtes für Juden von Anfang 1939 bis zum Oktober des gleichen Jahres, so daß ich genau weiß, wovon ich rede. Ich sah schließlich ein, daß man gegen so viel Gegnerschaft nichts ausrichten kann. Und so schaffte ich es, jemand anderen zu finden, der das Amt leitete.***

* Auslandsorganisation, Dachorganisation der Auslandsmitglieder der NSDAP.

** Lord Moyne, britischer Hochkommissar in Kairo. Als Juden erfuhren, daß er die Freilassung jüdischer Lagerinsassen blockierte, ermordeten sie ihn.

*** Müller übergab das Amt an Adolf Eichmann, einem ihm Untergebenen.

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F: Können Sie mir irgendetwas über die Sonderkonferenz berichten, die im Januar 1942 in Berlin stattfand? Sie fand, so glaube ich, in den Räumen der ehemaligen Interpol-Stelle in Wannsee statt.

M: Ja. Ich kann Ihnen etwas darüber sagen. Ich war von Anfang an dort. Vor diesem Datum gab es eine ernsthafte interne Auseinandersetzung zwischen Goebbels und Göring in der Frage der Juden in Deutschland, besonders in Berlin. Goebbels wollte sie alle in das Generalgouvernement* bringen lassen; Göring war dagegen. Göring war für die Industrieplanung (oder das Amt für den Vier-Jahres-Plan) zuständig. Und er wollte alle Facharbeiter, Juden eingeschlossen, behalten. Goebbels dagegen sagte, daß wegen möglicher Nahrungsmittelverknappung und möglicher Sabotagehandlungen alle Juden deportiert werden sollten. Hitler hatte bald die Nase voll von diesem ganzen Theater und ließ Göring machen, was er wollte. Ende Januar wurde eine Konferenz auf höchster Ebene in den Räumen der ehemaligen Interpol-Stelle am Wannsee angesetzt. Heydrich war dort, ich auch und viele andere.

Die Konferenz war langweilig. Das Ergebnis: Jüdische Facharbeiter und in der Rüstungsindustrie und anderen kriegswichtigen Industriebetrieben beschäftigte Juden sollten nicht deportiert werden. Und das war's dann schon.

* Generalgouvernement war die deutsche Bezeichnung für den Teil Polens, den sie 1939 besetzten. Himmler wollte alle Juden in das Gebiet von Lublin deportieren lassen, wo sie für die SS arbeiten sollten.

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F: Gab es keine Aussprache über die Deportierung und Tötung aller europäischen Juden?

M: Nein. Nicht die geringste Erwähnung dieses Themas. Es ging um die Frage, welche Juden deportiert werden sollten, welche Juden gehen und welche bleiben sollten. Alle freigestellten Juden sollten ganz und gar sich selbst überlassen bleiben.

Ich habe eine vollständige Niederschrift in meinen Unterlagen, zuzüglich vieler Stellungnahmen zu dieser Angelegenheit von Heydrich, von Göring. Dies war keine Konferenz zur Planung der Ermordung der Juden. Sie wurde einberufen, um die Standpunkte, die ich erwähnte, abzuklären. Es ging um nichts anderes.

F: Aber trotz allem müssen Sie doch von Grausamkeiten und Massentötungen gewußt haben. Sie in Ihrer damaligen Stellung können nun nicht sagen, Sie hätten davon nichts gewußt, nicht wahr?

M: Ich wußte eine Menge. 1941 hörte ich, daß Juden im Generalgouvernement umgebracht werden. Ich schickte einen meiner Leute dorthin, um Nachforschungen anzustellen. Er berichtete mir, daß in der Gegend um Lublin viele Juden... und andere... erstickt und vergast würden. Und dieser Mann war körperlich krank, als er sah, was vor sich ging. Ich erwähnte dies Heydrich gegenüber. Er sagte mir, ich sollte mich um meine Angelegenheiten kümmern. Ich merkte sofort, daß weitere Nachforschungen nicht gut waren. Aber nach Heydrichs Tod kam dann ein Mann von der Justizabteilung der SS zu mir mit Beweisen, daß es in einem Lager im Reichsgebiet zu Morden und Plünderungen gekommen war. Dies war etwas anderes, und ich schickte ihn zusammen mit einer Mitteilung über dieses Gespräch zu Kaltenbrunner. Kaltenbrunner wurde nervös und wollte nicht an die Sache ran. So kam sie zu Himmler.

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F: Warum hat Kaltenbrunner nicht eingegriffen?

M: Offensichtlich wußten wir nicht...... zumindest wußte ich nicht, ob dies die offizielle Politik war. Es ist in solchen Fragen besser, die Sache nach oben weiterzugeben, und die Leute an der Spitze darüber entscheiden zu lassen.

F: Und was tat Himmler?

M: In der Sache Buchenwald und anderen Lagern ordnete er eine Untersuchung an. Es gab Verurteilungen und Hinrichtungen von Lagerpersonal.

F: Hat Himmler alle Tötungen zum damaligen Zeitpunkt unterbunden?

M: Ich glaube nicht. Nach Heydrichs Tod unterrichtete ich Himmler über die Lager im Lubliner Gebiet, und er war sehr erregt. Aber ich meine, das hatte mehr mit General Globocnik als mit den Lagern selbst zu tun.

F.: Globocnik?

M.: Ja. Globocnik war Slowene und Mitglied der österreichischen NSDAP. Nach dem Anschluß wurde er Gauleiter von Wien. Das Gestapo-Büro in Wien fand heraus, daß Globocnik eine sehr zwielichtige Figur war; er hatte im Amt Geld unterschlagen. Dieser Bericht ging an Hitler.

F.: Warum nicht an Himmler? War dieser Mann nicht in der SS?

M.: Ja. Aber als Gauleiter war er Hitler verantwortlich und wurde als NSDAP-Mann betrachtet.

Q.: Was machte Hitler?

M.: Globocnik wurde sofort ersetzt. Himmler gab ihm dann später einen Posten als SS- und Polizeiführer in Lublin. Globocnik war der OSTI-Chef, also der Chef für die dortige Ostindustrie. Er leitete dieses Amt für Pohl, SS-Amt für Industrie. Globocnik sollte Rohmaterial und Fertiggüter an das Amt Pohl liefern. Das tat er auch. Aber er nahm

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auch den Gefangenen in den Lagern, die er bei Lublin errichten ließ, große Geldbeträge weg. Die Wahrheit ist, daß er jeden töten ließ, den er konnte, um Platz für neue Gefangene zu schaffen, um an deren Geld, Gold und andere Sachen wie Kleidung usw. heranzukommen.

F.: Wurde dies von Himmler gebilligt?

M.: Die Wegnahme von Geld und Wertsachen wurde gebilligt, nicht aber das Plündern und Unterschlagen. Ich erstattete Himmler darüber Bericht, aber er hörte auch schon von der Rechtsabteilung der SS davon. Aus diesem Grunde handelte er, ließ die Lager schließen und Globoc-nik versetzen.

F.: Wurde Globocnik deswegen irgendwie befördert?

M.: Oh ja. Himmler schickte ihn als obersten SS-Führer nach Triest, wo er noch mehr Geld stahl. Himmler befürchte sicherlich, daß jemand hinter Globocnik her war, ... ihn strafrechtlich belangte, weil er furchtbare Angst hatte, daß Hitler davon erfahren würde.

F.: Hitler hat also die Todeslager mißbilligt?

M.: Nein. Darum ging es hier nicht. Hitler hatte Globocnik persönlich als Gauleiter von Wien wegen schlechten Benehmens und verbrecherischen Verhaltens abgesetzt. Himmler meinte, nicht zu Unrecht, er werde dafür bezahlen müssen, wenn Hitler herausfand, daß Globocnik wieder im Geschäft war, und dieses Mal unter Himmler. Und Himmler hatte Angst vor Hitlers Wut. Aus diesem Grunde wurden die Lager geschlossen. Und es wurde Globocnik ermöglicht, mit seiner Beute zu entkommen.

F.: Hat Hitler dies je herausgefunden?

M.: Nicht von mir. Es war meinerseits nicht klug, Himmler deswegen herauszufordern. Hitler hat es vielleicht herausgefunden. Aber ich bezweifle es.

F: Gab es weitere Todeslager?

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M.: Oh ja. Weiter westlich bei Auschwitz.

F.: Ich meine, daß jeder von diesem Ort gehört hat. Haben Sie Berichte darüber? Irgendwelche direkten Kenntnisse?

M.: Ich schickte Leute zu den Konzentrationslagern. Ich selbst besuchte sie nicht. Auschwitz war anfangs ein Arbeitslager. Dann beschlossen Himmler und Pohl, den Ort als Standort für eine SS-Fabrik zu nutzen. Sie hatten dort Großfirmen wie Siemens und IG Farben. Dies war einer der Orte, wo Buna hergestellt wurde, synthetischer Gummi. Sie sehen, die SS ging ihre eigenen Wege, und Pohl war ein wirkliches Genie beim Gewinnemachen. Dieser Industriekomplex, der riesig wurde, sollte Geld bringen, wobei die Gestehungskosten so niedrig wie möglich zu halten waren. Sie hatten einige Freiwillige und bezahlte Arbeitskräfte; aber die meisten Arbeitskräfte stellten die Gefangenen. Die meisten Gefangenen waren Juden, aber es gab auch viele Aufrührer und sehr viele Berufsverbrecher. Die Dümmeren starben an schlechter Ernährung, an Hunger oder an Krankheiten. Niemand kümmerte sich darum. Und wenn einer starb, wurde er durch einen anderen ersetzt.

F.: Wie steht es mit dem Ausdruck Vernichtungslager?

M.: Oh ja. Ziemlich gerechtfertigt. Ein kleiner Teil des Lagers, am Rande unter den Bäumen und jenseits des Flusses, war ein wahrscheinliches Todeslager. Die Kranken.... Leute mit Typhus und anderen Krankheiten..., die sehr alten, meist Juden... und eine Anzahl politischer sowie entsprungener Kriegsgefangenen wurden zum Sterben dorthin geschickt.

F.: In Gaskammern?

M.: Das wurde zuvor gesagt. Sie haben in Lublin Menschen vergast, aber in Auschwitz, da bin ich mir nicht sicher.

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F.: Die Zyanid-Kapseln wurden doch benutzt, nicht wahr?

M.: Zyanid (Blausäure) wurde in den Lagern eingesetzt, aber auch von der Wehrmacht, um Kleider zu entlausen. Und all die Polen und Russen, die in diese Ostlager kamen, waren verlaust. Sie fragen nach Gaskammern? Ich bin mir sicher, daß es riesige Einrichtungen zum Desinfizieren gab, aber ich weiß nicht, ob sie zum Töten von Menschen benutzt wurden. Die meisten, die in Birkenau starben, starben an Typhus. Natürlich gab es dort wie in allen anderen Lagern Hinrichtungen. Meist durch Erschießen oder Erhängen.

F.: Höss, Kommandant von Auschwitz, hat anderes ausgesagt. Aber mir ist bekannt, daß er dies unter Zwang niedergeschrieben hat. Wie steht es mit den Verbrennungsöfen? Dicke Rauchwolken von den verbrannten Leichen sind wiederholt bezeugt worden.

M.: Sie stellten dort auch Öl aus Kohle her. Das ganze Gebiet ist ein einziges Kohlegebiet, und ich weiß, daß die IG-Farben dort riesige Öfen hatten, um Kohle in Öl zu verwandeln. Und diese verursachten die starken Rauchwolken. Ja, sie haben jedoch auch tote Häftlinge in Auschwitz verbrannt..., tatsächlich in allen Gefängnissen und Lagern. Das war üblich. Besonders bei Typhus. Nebenbei bemerkt: Das Einäschern von toten Gefangenen geht auf die Kaiserzeit zurück; es war keine Erfindung der SS.

F.: Es hört sich so an, als würden Sie für diese Lager Entschuldigungen vorbringen.

M.: Keinesfalls. Die Lager waren nicht als Todeszentren für die Juden geplant. Sie wurden benutzt, um alle Sorten von Verurteilten aufzunehmen: Bankräuber, Kommunisten, Homosexuelle usw. Und viele Leute, welche die Gestapo aus der Gesellschaft herausholte: aktive Staats-

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feinde, Nichtsnutze, Dauerarbeitslose usw. Ich habe jetzt keine Probleme damit und hatte auch damals keine, wertloses Gesindel eine Zeitlang für etwas harte Arbeit einzulochen.

F.: Aber die Juden haben in diese Kategorie nicht reingepaßt, nicht wahr?

M.: Zum Großteil nicht. Viele waren natürlich staatenlos und viele wurden als kostenlose Arbeitskräfte angesehen. Kaum eine angenehme Aussicht, aber keinesfalls eine Tötungsfabrik. Globocnik leitete eine Tötungsfabrik, aber nicht, weil er dazu den Auftrag bekam oder weil er die Juden haßte. Lange Zeit glaubte man, er sei Halbjude. Er ließ die Leute umbringen, um an ihr Geld zu kommen.

F: Wie viele sind Ihrer Meinung nach in Auschwitz umgekommen?

M.: Keine Ahnung. Ich habe nur wenige Zahlen in meinen Unterlagen, glaube ich.

F: Millionen?

M.: Wie bitte, in Auschwitz? So viele nicht, aber sicherlich sehr viele. Höchstens 100.000, aber keine Millionen.* Die meisten starben an Typhus und anderen Krankheiten. Im Augenblick kann ich Ihnen keine Zahlen liefern. Ich kann sie heraussuchen, wenn Sie wollen. Ich erinnere mich sehr genau, daß die letzten Zahlen etwa eine halbe Million lauteten, und das über einen Zeitraum von sieben Jahren. Und die meisten starben an Typhus, und sicherlich waren nicht alle Juden.

* Der Verlag weist darauf hin, daß obige Aussagen im Jahre 1948, also 40 Jahre vor der Rechtskraft des sog. Auschwitz-Gesetzes gemacht wurden. Es wird auch betont, daß sich Müllers Auslassungen nur auf den Komplex »Auschwitz« beziehen. Selbstverständlich muß die Einschätzung Müllers von Verlag und Autor nicht geteilt werden.

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F.: Wer war für die Tötungen verantwortlich? in Auschwitz z. B.?

M.: Ich weiß es nicht und ich wollte davon auch nichts wissen. Mit mir hat das überhaupt nichts zu tun. Ich weiß, daß Himmler davon gewußt haben muß. Ob er es befohlen hat oder nicht, weiß ich nicht.

F.: Kenntnis der Vernichtungsprogramme?

M.: Nein, nein. Lassen Sie mich noch einmal wiederholen. Ich persönlich berichtete ihnen von der hohen Todesrate und die schlechte Behandlung der Gefangenen in Sache Lublin. Darüber wußte er sehr gut Bescheid.

F.: Aber sie wußten davon, nicht wahr?

M.: Manchmal frage ich mich, ob Sie mir überhaupt zuhören. Ich habe Ihnen in den letzten Minuten wiederholt gesagt, daß ich darüber eine ganze Menge weiß. Ich habe Himmler, meinen Vorgesetzten, darüber unterrichtet. Ich hatte damit überhaupt nichts zu tun. Die Lager wurden von Glücks geleitet; dessen Vorgesetzter war Pohl. Wir befanden uns schließlich auf verschiedenen Befehlsebenen. Wenn ich mitbekam, daß Gesetze gebrochen wurden, oder daß das Verhalten nicht einwandfrei war, ergriff ich die erforderlichen Maßnahmen, um die Lage zu regeln.

F.: Was bedeutete nicht einwandfreies Verhalten?

M.: Nun. In einem Fall erfuhr ich, daß kommunistische Kommissare von der Wehrmacht zu einem von der SS geleiteten Lager gebracht werden sollten, um dort... erschossen zu werden.

F.: Die SS hatte sie dorthin gebracht?

M.: Nein, die Wehrmacht. Die Wehrmacht ließ diese Russen zu den Lagern bringen und wollte, daß sie erschossen werden. Die meisten starben an Typhus...starben in den Straßen auf dem Weg zu den Lagern. Eine höchst

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abscheuliche Sache. Und um Sie glücklich zu machen: Ich befahl, sofort damit aufzuhören.

F.: Gefangene zu erschießen?

M.: Nein. Sterbende Menschen zu uns zu bringen, um diese für sie (Wehrmacht, d. Verf.) zu erschießen. Wenn die Wehrmacht sie tot sehen wollte, dann sollte sie es selbst tun. Ich merke an, daß die Luftwaffe derlei nicht tat. Aber Sie haben dann Göring als Kriegsverbrecher betrachtet, nicht wahr? Meiner Meinung, denn das ist es wert, wäre es besser gewesen, etwas mehr Geld für die Nahrungsmittel auszugeben und sich um die Gefangenen zu kümmern, als sie verhungern und sie zu Tode arbeiten zu lassen. Andere haben das offensichtlich nicht so gesehen. Jeder im SS-Amt für Industrie war nur am Gewinn interessiert, um Himmler zu beeindrucken. Und Himmler wollte mit seiner Gerissenheit Hitler beeindrucken. So lief das ab.

F.: Dies war die Haltung der SS im allgemeinen, nicht wahr?

M.: Das würde ich nicht sagen. Die Waffen-SS unterschied sich völlig von der Allgemeinen-SS. Sie kümmerte sich in der Tat um Himmler überhaupt nicht. Sie beachtete ihn ganz und gar nicht und führte weiter Krieg. Himmler war sehr engstirnig. Er verbrachte mehr Zeit mit dem Verfassen von Anordnungen wie ›Was trägt man an Uni-formen?‹ und ›Wie redet man offiziell an?‹ als mit Anordnungen für den Krieg selbst. Himmler machte um alles Umstände. Ich wollte ich hätte eine Mark für jede Anordnung zu den banalsten und nutzlosesten Dingen, die ich von ihm erhielt.... selbst Hitler fand ihn ermüdend.. Himmlers Generäle ließen ihn völlig links liegen. Und er verbrachte ganze Tage mit dem Schreiben von Briefen an diesen oder jenen General wegen Mißachtung oder Ungehorsam. Er forderte mich einmal auf, in einem Fall von

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Aufruhr, wie er es nannte, Nachforschungen anzustellen. Aber es gelang mir, aus dieser Sache sofort auszusteigen. Ich für meine Person war mehr daran interessiert, den Krieg zu gewinnen als in dem, wie ein General einen anderen General in einem amtlichen Schreiben bezeichnete.

F.: Ließen auch Sie Himmler links liegen?

M.: Für mich war das viel schwerer, da ich die ganze Zeit hier in Berlin unter seinen Augen war. Ich tat, was ich tun mußte, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich mich weigerte, den Befehl über eine Einsatzgruppe (wörtlich Anti-Banditen-Kommando, d. Verf.) im Osten zu übernehmen. Für mich gab es Wichtigeres zu tun, als in Rußland herumzustreifen und sowjetischen Banditen und Juden zu erschießen.

F.: Wenn Himmler also keinen Vernichtungsbefehl gab, wer dann? Hitler?

M.: Nein. Das meiste begann mit Heydrich und als dieser starb, ging es einfach so weiter.

Himmler hatte wirklich Angst, daran zu rühren. Natürlich wußte er davon. Ich weiß genau, wie viel er gewußt hat oder wann er es gewußt hat. Aber ich selbst gab ihm beachtliche Hinweise. Er wußte, daß Gefangene an Hunger und Typhus starben, tat aber nie etwas dagegen. Erneut meine ich, daß er vor Hitler mehr Angst als vor irgendetwas anderem hatte. Ich meine, daß er annahm, Hitler würde ihn ersetzen, wenn er annahm, Himmler sei nicht fähig. Die SS war schließlich sein ganzes Leben. Und seine ganze Macht, auch der geringste Zipfel davon, hing von Hitlers Gunst ab. Am Ende war alles für nichts. Sie wollen wissen, welche Rolle ich bei diesen Lagern gespielt habe. Dazu kurz wie folgt: Ich brachte Leute aus verbrecherischen oder politischen Taten in diese Lager.

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Mit der Leitung der Lager oder damit zusammenhängenden Politik hatte ich überhaupt nichts zu tun. Ich habe singen hören, daß Glücks noch am Leben ist. Warum fragen Sie nicht ihn?

F.: Ich meine, wir sollten das streng trennen, Herr General. Und sicherlich wissen Sie warum.

M.: Wenn Sie Angst haben, daß jemand mit einem Dokument auftaucht, um meine Mittäterschaft zu beweisen, dann brauchen Sie das nicht. Es gibt nirgendwo ein Wort über meine Verwicklung in dieser Sache. Sofern natürlich nicht die Kommunisten oder ihre Freunde etwas für Sie zusammenfälschen. Das lieben sie ja so sehr.

MU 13-75-96: 8: S. 1-9; 11-16

Kommentar

Müllers Bemerkungen zum System der deutschen Konzentrationslager wird keinem Vertreter der beiden extremen Seiten in dieser Auseinandersetzung, die um den wirklichen Zweck der Lager und die endgültige Zahl der in ihnen umgekommenen Opfer, zufrieden stellen. Eine sehr stark verankerte und einflußreiche Gruppe behauptet, der einzige Zweck dieses Lagersystems sei es gewesen, das europäische Judentum zu vernichten. Und es habe seinen Zweck erreicht: Zwischen sechs und sieben Millionen Juden seien zwischen 1934 und 1945 systematisch umgebracht worden. Die andere Seite behauptet, daß die Lager in erster Linie Gefängnisse waren, keine Mordfabriken, und daß die Vernichtung der Juden weder zahlenmäßig groß war, noch staatlicherseits befohlen wurde.

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Das Hauptproblem dabei besteht darin, daß bis zum Ende des Sowjetsystems fast die gesamten vollständigen Unterlagen des Lagersystems, das die Rote Armee 1945 in der Hauptverwaltung der Lager, dem Lager Oranienburg bei Berlin, erbeutete, von den Russen sicher verwahrt und niemanden sonst zugänglich gemacht worden war. Da es bei den Sowjets üblich war, die westdeutsche Regierung auf jede erdenkliche Weise zu schikanieren, konnte das Unterverschlußhalten solcher Akten, welche die ungeheure Gesamtzahl der toten Verfolgten beweisen konnten, sehr wohl bedeuten, daß diese Akten das Gegenteil hätten aussagen können.

1990, beim Heraufkommen von Glasnost, wurden von russischen Archivaren Rollen mit Mikrofilmen, welche alle Lagerberichte wiedergaben, in beschränkter Anzahl freigegeben. Ein Satz dieser Filme ging an die Zentrale des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes in Arolsen, Deutschland. Mehrere weitere vollständige Sätze fanden ihren Weg in die Hände anderer interessierter Gruppen.

Müller hatte in seinen ausführlichen Akten ebenfalls zahlreiche Berichte, Listen, Statistiken und Briefwechsel aus dem Lagersystem. Sowohl die von den Russen frei gegebenen Unterlagen als auch die Unterlagen Müllers stimmen hinsichtlich der Anzahl der tatsächlich in jedem Lager Gestorbenen überein. Vor dem Auftauchen dieser vollständigen Unterlagen gab es keine genaue Möglichkeit, die Zahl der Toten zu bestimmen, wodurch dieser Bereich offen für Mutmaßungen, Annahmen und ideologische Böswilligkeiten war.

Da im Gespräch mit Müller Auschwitz besonders erwähnt worden ist, ist es aufschlußreich, die dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellten Lagerberichte und den gesamten Auschwitzkomplex kurz zu überprüfen.

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Anfang 1941 hatten die Deutschen beschlossen, ein Hydrierwerk, in dem Öl aus Kohle gewonnen werden sollte, und ein Bunawerk, das synthetischen Gummi herstellen sollte, zu bauen. Das Gebiet um Auschwitz im Generalgouvernement wurde wegen seiner Nähe zu den schlesischen Kohlegruben und seiner Lage am Zusammenfluß von drei Flüssen ausgewählt. Zudem war man der Auffassung, dieses Gebiet läge außerhalb der Reichweite der alliierten Bomber, die nun mit ihren Angriffen auf die Industrieanlagen im Ruhrgebiet und der wahllosen Bombardierung ziviler Ziele begannen.

Bei Auschwitz befand sich eine ehemalige polnische Artilleriekaserne, in der etwa 6500 polnische Kriegsgefangene untergebracht waren. Dieses Lager wurde systematisch in ein Arbeitslager für politische Flüchtlinge erweitert. Man nannte es Auschwitz I.* Ebenfalls 1941 wurde ein zweites Lager, etwa drei Kilometer nordwestlich des Hauptlagers errichtet. Es hieß Birkenau oder Auschwitz II; ursprünglich war es ein Kriegsgefangenenlager. Es wurde im April 1942 eröffnet. Auschwitz III oder Monowitz wurde im November 1941 eröffnet und befand sich rund vier Kilometer östlich der Stadt Auschwitz, in der Nähe der IG-Farben-Fabrikanlage.** Es gab in etwa im Umkreis von 40 Kilometer um das Hauptlager eine Anzahl kleinerer Nebenarbeitslager. Die meisten Häftlinge arbeiteten in den örtlichen Kohlengruben oder Kokereien.

Zu Beginn waren die Lager voller polnischer Kriegsgefangener. Nach dem Juni 1941 füllten sie sich mit sowjeti-

* IMT (Nürnberger Tribunal) NO-034, Bd. 5, S. 356-358.

** IMT (Nürnberger Tribunal) NO-021, Bd. 5, S. 385

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sehen Kriegsgefangenen. Später kamen politische Häftlinge, darunter Kommunisten, hinzu. Des weiteren religiöse Dissidenten, Homosexuelle, Berufsverbrecher, Juden, Sin-tis und Roma und eine Anzahl britischer Kriegsgefangener. Die Lagerinsassen sollten als Vertragsarbeiter für die vielen deutschen Industrieunternehmen dienen, die in der Nachbarschaft angesiedelt wurden. Die SS erhielt je Häftling und Tag einen gewissen Betrag, behielt, was sie konnte und gab nur widerwillig das heraus, um die Lagerinsassen am Leben zu erhalten. Ausnahmen gab es für Facharbeiter; diese erhielten eine bessere Unterkunft und Verpflegung als die Ungelernten und kaum produktiv Arbeitenden.

Mit der Internierung von Russen wurde schließlich Typhus in das Lager eingeschleppt. Und von Zeit zu Zeit tobten im Lager furchtbare Seuchenepidemien, und die Krankenhäuser waren voller Toter und Sterbender. Typhus, eine höchst ansteckende Krankheit (Rickettsia pro-wazekii) existiert nur bei Menschen und der sogenannten Menschenlaus. Die Todesrate bei dieser Krankheit war damals sehr hoch, da Antibiotika, die heute in diesen Fällen verwendet werden, damals nicht zur Verfügung standen. In Müllers Unterlagen befindet sich ein Briefwechsel zwischen Höss, dem Lagerkommandanten, und SS-General Oswald Pohl, dem Chef der SS-Industrieamtes, und zwischen Pohl und Himmler hinsichtlich der furchtbaren Todesraten. Es wurde notwendig, daß allen ankommenden Gefangenen der Kopf geschoren wurde und sie desinfiziert wurden, ehe sie ins Lager kommen konnten. Die Desinfizierung erfolgte durch Duschen mit medizinischer Seife. Die gesamte Kleidung aller Neuankömmlinge wurde eingesammelt und in besonders dafür eingerichteten Räumen entlaust, Dazu wurde Zyklon B, ein handelsübliches Desinfektionsmittel benutzt. Neuankömmlinge erhielten frische

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Häftlingskleidung, und alles, was sie besaßen, wurde gesammelt und später als Rohmaterial nach Deutschland transportiert. Fast alle Auschwitzhäftlinge wurden in ein Buch eingetragen und erhielten eine Nummer. Die Eintragung enthielt den Namen des Gefangenen, sein Geburtsdatum und seine Nummer. Es war üblich, über alle Gefangenen, die in diesem Lager starben, Buch zu führen. Eingetragen wurden Todesdatum, die Häftlingsnummer und die Todesursache. Die russischen Unterlagen enthalten die gesamten Sterbebücher von Auschwitz. Auf der Grundlage dieser Zahlen, von der Lagereröffnung 1941 bis spät ins Jahr 1944 hinein (das Lager wurde schließlich im Januar 1945 geschlossen), belief sich die Anzahl aller verstorbenen Häftlinge auf 73-137. Von diesen starben 65%, also 47.539, allein an Typhus. Die übrigen 25.598 Häftlinge starben an verschiedenen Ursachen: Selbstmord, Hinrichtung aus verschiedenen Gründen wie Ermordung eines Mithäftlings, Diebstahl von Nahrungsmitteln und ähnlichem.*

Von den 73.173 Toten waren 52% oder 38.031 Personen Juden; sie sind so in den Sterbebüchern aufgeführt. Diese kürzlich ermittelten Zahlen stehen in heftigem Gegensatz zu den Zahlen, die seit Kriegsende genannt worden sind. Zunächst hieß es nach 1945, es seien mehrere Millionen Tote, alles Juden, in Auschwitz zu verzeichnen gewesen. Diese Zahl wurde von der Auschwitz-Gedenkstätte jetzt kürzlich auf rund eine Million zurückgeschraubt. Aller Wahrscheinlichkeit wird sich die genaue Todeszahl von Auschwitz kaum ermitteln lassen. Es steht außer Frage, daß eine Anzahl von nicht registrierten Menschen verstorben ist. Aber wenn man die Wahl zwischen

* vgl. New York Times, 3. 3. 1991

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offiziellen Zahlen aus dieser Zeit hat und historische Mutmaßungen, dann wird die Geschichtsschreibung gewiß die angemessene Entscheidung treffen.

Als historische Anmerkung zu diesem Kommentar sei eine offiziell aufgezeichnete Unterredung Hitlers eingefügt. Der erste Teil ist in einer Anzahl Bücher ausführlich zitiert worden, aber der zweite, aus offensichtlichen Gründen, nicht.

Am Samstag, dem 25. Oktober 194l, empfing Hitler den italienischen Außenminister Graf Ciano zu einer Besprechung in seinem ostpreußischen Militärhauptquartier (Wolfsschanze). Zugegen waren noch einige höhere Regierungsvertreter. Im Anschluß an die Unterredung gab Hitler für einige dieser Personen ein privates Essen. Einer der Anwesenden war Heinrich Himmler, Chef der SS, und der andere war SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, RSHA, das die Gestapo und den SD kontrollierte. Heydrich war Müller unmittelbarer Vorgesetzter, und an der Spitze stand Himmler.

Während des Essens sagte Hitler: Von der Rednertribüne des Reichstages prophezeite ich dem Judentum, daß der Jude im Falle eines unvermeidlichen Krieges aus Europa verschwinden wird. Diese Rasse von Verbrechern hat die zwei Millionen Tote des Ersten Weltkrieges auf dem Gewissen, und nun schon weitere Hunderttausende.

An diesem Punkt lassen sich die Historiker über Hitlers offensichtliche Absicht aus, alle Juden, die er in seine Hände bekommen konnte, umzubringen. Der Rest der Rede offenbart allerdings eine ziemlich andere Bedeutung.

Niemand möge mir erzählen, wir können sie nicht in den sumpfigen Gebieten Rußlands unterbringen. Wer

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macht sich Sorgen um unsere Truppen? Nebenbei bemerkt, es ist kein schlechter Gedanke, wenn Gerüchte in der Öffentlichkeit uns einen Plan zur Vernichtung der Juden zuschreiben. Terror ist etwas Heilsames.*

Müllers Kommentare über die Hinrichtung sterbender sowjetischer Kriegsgefangener finden sich in seinen eigenen Unterlagen wie auch in Unterlagen des amerikanischen Nationalarchivs.

Wissenschaftler, die offizielle Dokumente aus dieser Zeit untersuchen, stellen sofort zweierlei fest. Müller erläßt erstens eine besondere Anordnung (siehe Anhang), und unterrichtet zweitens seine Vorgesetzten nur davon, daß er dies getan hat. Dies ist zweifelsohne ein Hinweis auf die wirkliche Macht, die Müller als Chef der Gestapo hatte.

Müller hatte offenbar nichts dagegen, daß die Wehrmacht sowjetische Kriegsgefangene erschießen läßt, nahm jedoch Anstoß an deren Vorgehensweise. Seine Akten sind voll von ähnlichen Anordnungen und Einwendungen; keine wurde je angefochten.

* Hitler's Secret Conversations, 1941-1945 (Hitlers geheime Gespräche 1941 - 1945), New York 1953. S. 72, Niederschrift 52.

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