DER LÖWE VON MÜNSTER
Im Gegensatz zum Themenkomplex der Endlösung ist das Euthanasie-Programm des Dritten Reiches besser dokumentiert. Es gibt sogar einen von Hitler unterzeichneten Erlaß, der die damit befaßten staatlichen Stellen ermächtigt, von Fall zu Fall zu entscheiden. Das Programm, das zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gestartet wurde, ist nicht zuletzt wegen des Drucks der Kirchen im August 1941 abgebrochen worden Mullers Beteiligung bei der Beendigung des Programms wirft ein bezeichnendes Licht auf Hitlers tatsächliche Kontrolle aller Lebensbereiche in Deutschland.
F: Ich hätte gerne etwas das Thema »Gnadentodpro-gramm« angesprochen, das, wie ich glaube, 1941 eingeleitet wurde Dauerkranke, Geisteskranke usw. sollten auf Hitlers Befehl vergast werden. Ist das richtig?
M: Ja, ziemlich richtig Ich habe den Befehl gesehen, den Hitler dazu unterzeichnet hat. Was kann ich dazu sagen?
F: Das Programm wurde schließlich abgebrochen, nicht wahr?
M: Ja. Ich glaube, es war Ende August oder Anfang September 1941. Um Sie zu berichtigen: Man begann mit diesem Programm im September 1939. Wirth, diese Kreatur, den Sie unter Ihrem Schutz zu haben scheinen, war einer der Organisatoren dieses Apparates. Es entspricht voll und ganz den Tatsachen, daß eine große Zahl von dauerhaft Kranken, d h Personen, die geisteskrank oder für Lebzeiten Krüppel waren, ausgenommen die Kriegs-
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krüppel des Ersten Weltkrieges usw., umgebracht wurden.
F: Warum hörte man damit auf?
M: Hitler befahl den Abbruch, als Bischof von Galen dieses Programm öffentlich verdammte. Er hielt seine letzte Predigt, so glaube ich, am 3. Aug. 1941 in der St. Lamberts-Kirche. Er hielt eine sehr eindrucksvolle Predigt über die Ermordung unschuldiger deutscher Bürger. Und diese Rede wurde gedruckt und in ganz Deutschland verbreitet. Ich selbst hatte dabei einen großen Anteil. Wenn Sie davon hören wollen.
F: Natürlich. Fahren Sie bitte fort.
M: Der Bischof, der nebenbei bemerkt ein sehr bewußter deutscher Nationalist war, hatte Kenntnis von den Tötungen bekommen und einen Hirtenbrief verschickt. Natürlich erfuhren die Gestapo-Dienststellen in der Gegend davon, und man schickte mir eine Abschrift. Er war sicherlich mit der Verurteilung dieses Programmes sehr direkt. Ich kann ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Er betrachtete dies als Verletzung der zehn Gebote, und in diesem Fall war ich seiner Meinung. Kleine Kinder und ältere Menschen zu vergasen, war zweifelsohne verbrecherisch. Ich mußte diesen Vorgang sehr aufmerksam beobachten, damit er nicht außer Kontrolle geriet. Ich schickte den Leiter des regionalen Gestapo-Büros zum Bischof, um mit ihm zu sprechen und um ihn zu warnen, die Finger von dieser Sache zu lassen. Dies war natürlich meine dienstliche, nicht meine persönliche Meinung. Auf jeden Fall weigerte sich der Bischof, seine Meinung dazu zu ändern. Himmler erhielt von seinem Vorgehen Kenntnis, und so kam es auch wieder zu mir. Himmler und ich erörterten dies recht ausführlich. Himmler war früher Katholik, und ich war
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noch immer in der Kirche, so daß wir eine gemeinsame Ausgangsgrundlage hatten.
Er fühlte sich wegen der ganzen Sache sehr unbehaglich, besonders weil sie nun öffentlich wurde. Es behagte ihm nicht, daß die SS damit befaßt war. Himmler konnte sich nie zu etwas entschließen. Dies benutzte ich, um meine Leute anzuweisen, den Bischof nicht zu belästigen, ihn jedoch weiterhin zu beobachten. Dann, so meine ich, am 3. August hielt er seine Predigt. Ich wußte davon und hatte einen Gestapo-Mitarbeiter in der Kirche, der die ganze Predigt mitstenografieren sollte. Ich muß sagen, daß von Galen ein hochbegabter und entschlossener Mann war. Er beschuldigte die Regierung und einige ihrer Mitglieder des Mordes. Ein Kompromiß war nicht mehr möglich. Am Abend hatte ich den ganzen Text. Ich schickte eine Abschrift an Himmler und eine weitere mit Boten an Goebbels. Goebbels war ebenfalls Katholik gewesen. Aber im Gegensatz zu Himmler hatte er einen klaren Verstand und verstand sofort den Inhalt meines Begleitberichtes: Würde man den Bischof festnehmen, gäbe es im Gau eine beachtliche Unruhe, die nicht zu kontrollieren wäre. Goebbels ließ mich kommen und verlangte von mir weitere Erläuterungen. Ich sagte, ich würde persönlich zum Bischof gehen, um zu erreichen, daß der Vorgang sofort beendet wird. Ich besprach dies mit Himmler, der zustimmte, daß sofort etwas Entscheidendes getan werden müsse. Dann suchte ich von Galen auf und besprach mit ihm recht ausführlich den Sachverhalt. Er fragte mich sehr nachdrücklich, ob ich für dieses Programm sei, und ich sagte nein. Ich erklärte ihm, daß ich dafür einige sehr gute Gründe hätte. Erstens würde ich als Katholik seinen theologischen Auffassungen zustimmen. Zweitens würde dieser Vorgang die SS im besonderen und das deutsche Volk im allgemeinen in
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einem schlechten Licht erscheinen lassen. Und drittens, ich hätte eine kleine Tochter, die an der gleichen Krankheit leide, für die andere umgebracht würden.
F: Es tut mir leid, das zu erfahren.
M: Dies war für meine Frau und mich ein Grund großer persönlicher Sorge und Belastung und verursachte in unserer Familie Mißstimmung. Aber ein armes Kind einfach zu töten, kam nicht in Frage. Sie sehen, ich hatte also eine Menge nicht-nationalsozialistischer Gründe, um mit dem Bischof völlig übereinzustimmen. Und ich bewunderte seine Zivilcourage, an der es damals anscheinend sehr mangelte. Ich sagte dem Bischof, er könne so nicht weitermachen oder er würde in einem Lager enden. Er sagte, er könne nichts anderes tun, ihm bleibe keine andere Wahl. Ich erinnerte ihn daran, daß Luther auf dem Reichstag zu Worms das Gleiche gesagt hatte. Ich fragte ihn, was zu geschehen hätte, damit er schweige. Er verlangte, daß man das ganze Programm sofort abbricht.
Als Gegenleistung würde er nichts mehr sagen oder schreiben. Als ich nach Berlin zurückkehrte, sprach ich sowohl mit Himmler als auch mit Goebbels. Sie ließen mich jetzt wissen, daß Hitler wütend sei, und der bösartige Bormann nicht nur die Verhaftung des Bischofs, sondern ihn auch hingerichtet sehen wollte. Ich bereitete einen Bericht vor, den ich sowohl Goebbels als auch Himmler gab. Und Hitler stimmte erfreulicherweise der Beendigung dieses Programmes zu. Ich muß sagen, daß Bormann wütend war, aber das berührte niemanden. Und ich war nicht der einzige, der sich bei Hitler für den Bischof einsetzte. Weitere Mitarbeiter seines Stabes und hohe Regierungsbeamte schlössen sich an. Hitler nahm seine Anordnung zurück, und von Galen hielt sein Wort. Natürlich hatte es Bormann nicht gern, daß man ihm einen
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Strich durch die Rechnung machte, und er war zu jeder Art von Verrat fähig. Daher wies ich meine Leute ständig an, sicher zu stellen, daß dem Bischof nichts zustieß. Er wurde nach der 20 Juli-Affäre verhaftet und blieb eingesperrt, aber ich versichere Ihnen, daß er gut behandelt wurde. Ja, es war eine üble Sache, aber im Osten ging das Töten weiter. Ich vermute, daß es hinnehmbarer ist, wenn die Opfer keine Deutschen sind.
Von Galen hatte Glück. Ein Geistlicher aus Berlin endete in einem Lager, da er von Galens Thema aufgriff. Das war dumm von ihm, denn die Sache war vorbei, und es ging nun darum, darüber nicht mehr zu sprechen. Natürlich macht das Tote nicht wieder lebendig, nicht wahr.
F: Nein. Von Galen starb kurz nach dem Krieg. Er beklagte sich über die Alliierte Behandlung deutscher Kriegsgefangener. Wußten Sie das?
M: Ja. Haben Sie es getan?
F: Was getan?
M: Den Bischof umgebracht natürlich.
F: Nein. Er war ein alter Mann und starb an einer Lebensmittelvergiftung .
M: Sie hören sich genau wie Heydrich an.
F: Das ist eine Beleidigung.
M: Heydrich war nun mal so. Er dagegen war dafür, den Bischof umzubringen, mittels eines Autounfalles oder eines Flugzeugunglücks..., genauso wie Ihr Mr. Churchill das mit seinen Feinden zu machen pflegte. Nein, ich glaube nicht, daß Sie den Bischof umbringen ließen, aber in 20 Jahren wird man Sie dafür verantwortlich machen.
F: Von Galen wird als einer der Pfeiler des Widerstandes gegen Hitler angesehen.
M: Unsinn. Da ist nichts Wahres dran. Der Bischof war überzeugter Nationalist, aber er war ein noch überzeugte-
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rer Katholik, und der eine Glaube war stärker als der andere. Ich kann Ihnen aus persönlicher Kenntnis der Sachlage sagen, daß von Galen nichts mit den Stauffen-berg-Perversen und den winselnden alten Generalen zu tun hatte. Sein Widerstand kam aus seinem Glauben und nicht aus seinem Ich heraus. Dies ist immerhin ein ziemlicher Unterschied, und ich glaube, daß Sie das verstehen. Sie wissen, daß die Lager voll von Menschen aller Art waren, nicht nur Juden und Hitler-Gegnern. Die Häftlinge setzten sich aus Kommunisten, Abartigen, Berufsverbrechern, religiösen Verrückten, Staatenlosen, Landstreichern, Herumlungerern usw. zusammen. Nur weil einer in einem Lager war, wird daraus noch lange kein Heiliger. Und wenn Sie das noch nicht gemerkt haben, so bin ich mir sicher, daß Sie das herausfinden werden. Aus Dreck soll man keine Heiligen machen. Warum heißen Sie nicht alle Lagerinsassen in den USA willkommen und geben ihnen eine Anstellung bei der Regierung? In einigen Monaten wären sie wieder auf einem Schiff auf der Rückfahrt nach Bremen, und sie müßten ihre Büroräume ausräuchern.
F: Ich weiß, daß wir damit Probleme haben werden und wir hätten gerne Ihre Unterlagen, um dem ein Ende bereiten zu können.
M: Ein Großteil dieser elenden Gestalten ist in Ihr Land gekommen, wobei sie ihre Inhaftierung als eine Art moralischen Paß benutzt haben. Ich besitze derlei Unterlagen nicht, da mir die Lagerverwaltung nicht unterstand, aber ich meine, daß es möglich sein wird, Namen mit Gerichtsakten und Verurteilungen, zu denen ich Zugang habe, zu vergleichen. Leute dieser Art wollen Sie in Ihrem Land nicht, glauben Sie mir. Wenn ich die Juden einmal außer acht lasse, so habe ich die meiste Zeit meines Berufslebens
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damit verbracht, solche Gestalten aufzustöbern..... und aus der Gesellschaft zu entfernen. Ich erwähne die Verbrecher, die Entarteten, die Kommunisten und die Nicht-Gesellschaftsfähigen. Ich habe in erster Linie gesehen, welchen Schaden solche Gestalten einer wohlgeordneten Gesellschaft zufügen können. Im Kaiserreich wurden Gesetze natürlich aufgezwungen, aber die Deutschen neigten nicht dazu, herumzulungern, zu jammern oder Gewalt anzuwenden. Als 1918 der Zusammenbruch kam, kam all dies Getier aus seinen Löchern und begann auf den Straßen herumzukriechen. In den großen Städten gab es Schwulen- und Lesben-Bars, Abartigkeit und Pornographie blühten, der Konsum von Rauschmitteln nahm zu und Gewaltverbrechen gab es überall, selbst in den kleinsten Städten und Dörfern. Berufsmäßige kommunistische Agitatoren, die meisten Ausländer, hetzten die Unterschicht auf und verleiteten sie zu offenem Aufstand gegenüber einem Gesellschaftssystem, von dem man annahm, es verweigere einem die gerechte Entlohnung.
F: Entlohnung in welcher Hinsicht?
M: In jeder Gesellschaft gibt es Leute, die können etwas und bringen es zu etwas.
Und so lange die Nation gefestigt ist, wollen es ihnen andere nachmachen: Gut verdienen und eine Familie ernähren, zur Universität zu gehen und sich eine gute Ausbildung sichern. Die Unzufriedenen sind meistens gescheiterte Intellektuelle oder in Wirklichkeit Pseudo-Intellektuelle. In ihren Herzen wissen sie oder glauben es, daß sie nichts sind. Sie können nichts schaffen..., sie können nicht malen oder Gedichte schreiben oder spielen, so daß jemand von ihnen Kenntnis nimmt Was sie machen, ist von minderer Güte; es läßt sich nicht auf dem freien Markt verkaufen. Pascal erwähnt dies.
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F: Wo?
M: In seinem Essay über die Gedanken. Wenn ich mir die Stelle in die Erinnerung zurückrufe, dann lautet sie: Menschen möchten gerne groß sein, aber sie wissen, daß sie klein sind. Sie möchten glücklich sein, sind aber unglücklich. Sie wollen vollkommen sein, wissen aber, daß unvollkommen sind. Sie wollen von anderen geehrt und geliebt werden, wissen aber, daß ihre Mängel nur Verachtung verdienen. Ich glaube, so in etwa lautet diese Stelle. Und Pascal fährt fort und sagt, daß diese Leute sich über die Wahrheiten, die ihre Mängel derart aufdecken, äußerst aufregen. Ein solcher Mensch wird Kommunist oder Liberaler, wie man in England sagt. Er meint, daß er sich nur durch die Rückstufung aller Menschen auf eine gemeinsame Ebene überlegen oder zumindest gleichwertig fühlen kann. Diese Leute können nichts erreichen oder schaffen, aber sie können sicherlich das, was andere erreicht oder geschaffen haben, zerstören. Man findet diese Gestalten in der akademischen Welt, Gestalten voller Haß, weil sie nicht das schaffen können, was sie lehren, oder in den Gewerkschaften, wo sie den Mann verfluchen, der die Fabrik, die sie selbst nicht bauen konnten, gebaut hat. Und wenn sie an die Macht kommen, dann zerstören sie das, was sie berühren. Ich weiß, daß Sie in Ihrem Land viele von dieser Sorte haben. Die meisten sind dort geboren, aber eine ganze Menge ist aus Europa geflohen. Ich habe damit direkte Erfahrungen, die Sie nicht haben. Werfen Sie diese aus dem Land, ehe sie alles, was in Sicht ist, verderben. Sie fangen damit an, daß sie verlangen, daß man den Gedanken akzeptiert, daß alle Menschen gleich sind, und daß jeder seinem Nachbarn gleich sein muß, nicht ihm überlegen. In der Mathematik nennt man so etwas einen gemeinsamen Nenner. Nun wollen diese aka-
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demischen Arbeitslosen, daß alle Menschen gleich sind, und sie wegen ihrer besseren Ausbildung die natürlichen Führer dieser Massen sind. Sie manipulieren die Massen, zu denen sie sich herablassen, um eine bestehende Regierung zu stürzen und diese durch sie zu ersetzen. Und die Tyrannei des Marktplatzes, die mehr oder weniger natürlich ist, wird durch die Tyrannei des gescheiterten Intellektuellen ersetzt, der genau weiß, daß er der richtige ist und der jeden, der nicht so begabt ist wie er, dazu zwingen will, ihn als kleinen Gott aus Ton zu verehren. Und ich sollte auch etwas zum Thema Gott sagen. Was Sie auch immer glauben mögen, so muß ich doch sagen, daß eine Gesellschaft ohne Gott oder eine starke moralische Zentralkraft schnell in einzelne Teile zerfällt, wobei jeder versucht, die leere Kirche zu besetzen. Wenn man die Autorität einer zentralen moralischen Macht zerstört, bleibt eine Leere zurück.
F: Die Natur lehnt natürlich eine Leere ab.
M: Und sie wird durch etwas ersetzt. Man hüte sich vor dem Mann, der Gott sein will.
F: Trifft das nicht auf Hitler zu?
M: Ich dachte an Lenin. Ja, in gewisser Hinsicht, trifft dies auch auf Hitler zu. In anderer Hinsicht nicht. Nach 1918 herrschte in Deutschland ein gesellschaftliches, politisches und moralisches Chaos. Die meisten Menschen wollten nur Frieden und ihre Ruhe, um ihr Leben leben und ihr Schicksal verbessern können. In der Weimarer Zeit gab es nicht das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören oder daß es möglich wäre, durch anständige Arbeit hochzukommen. Bestechung, Laster und Verbrechen waren damals oben auf. Und alles was Hitler tat, war, den enttäuschten und sogar verängstigten Massen zu zeigen, daß es noch immer Werte gab, und daß man in der Tat
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in ihrem Leben eine Art moralischer Ordnung wiederherstellen konnte. Im Gegensatz zu Stalin, der nur mit Hilfe von Furcht herrschte, beachtete Hitler immer die Wünsche der Leute und pflegte sie in seine Überlegungen miteinzubeziehen. Wir sprachen gerade über von Galen. Hitler war offensichtlich wütend darüber, da sich jemand öffentlich gegen seine Autorität auflehnte. Aber er konnte sehr deutlich erkennen, daß er in hohem Maße sein Ansehen bei den Deutschen verspielen würde, würde er gegen den Bischof vorgehen....
F: Aber die Juden?
M: In Deutschland sahen es die meisten Leute gerne, daß man die Juden aus dem Lande zwang. Nicht, daß man sie auf den Straßen umbrachte, aber daß man sie aus ihrer Gesellschaft herauszwang. Auf diesem Gebiet reagierte Hitler nur auf das, was die Öffentlichkeit wollte. Andererseits war er ein intellektueller Antisemit, d.h. er verdeckte seine Ablehnung der Juden mit intellektuellen Aussagen. Er hatte sicherlich keine Schwierigkeiten, die Leute aus persönlicher Abneigung gegen die Juden aufzuhetzen. Ich betrachte dies als einen schwerwiegenden Beurteilungsfehler, denn die Geschlechter nach uns werden, lange nachdem das letzte Parteimitglied tot in seinem Grabe liegen wird, einen nie endenden und stärkeren Aufschrei seitens der Juden hören, und die Kinder, Enkel und Urenkel werden sich entschuldigen müssen. Die Gefahr für die Juden besteht darin, daß es die Deutschen schließlich satt haben werden, ständig wegen Kriegsverbrechen, Todeslagern und dergleichen angeklagt zu werden und sich ihren Anklägern zuwenden. Und wohin führt dies? Zu Gewalt? Nein! Zu Gleichgültigkeit, und dies ist schlimmer.
F.: Vom geschichtlichen Standpunkt aus stimme ich Ihnen zu. Aber das heutige Deutschland muß mit den
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Vorgängen im Dritten Reich mit sich selbst ins Reine kommen.
M: Richtig. Und die Sowjets müssen schließlich mit dem weitaus größeren Schrecken, den sie sogar dem eigenen Volk zugefügt haben, ins Reine kommen. Und es hört niemals auf, nicht wahr? Was habe ich zum Thema Rattenkot gesagt?
F: Ich erinnere mich, daß Sie sich dazu geäußert haben.
M: Stimmen Sie dem zu?
F: Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zuzustimmen oder nicht. Ich habe Ihnen nur eine Anzahl Fragen zu stellen. Unsere Diskussion ist sicherlich interessant und sehr oft herausfordernd, aber alles zu seiner Zeit, Herr General.
M: Sie finden mich herausfordernd?
F: Natürlich. Und es macht Ihnen großen Spaß, mich zu prüfen. Ich frage mich, warum Sie das tun?
M: Um Ihnen zu zeigen, daß Sie des Gleichen schuldig sind, dessen Sie mich anklagen.
F: Weswegen schuldig?
M: Schuldig, weil man sich nicht darum kümmerte. Ich erlebte die Stabilität des Kaiserreiches, die Belastung eines großen Krieges, den Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaft, Revolution und Morden auf den Straßen, die stets sehr sauber waren, politische Reaktion, Kriege, katastrophale Bombardierungen und Abschlachten. Sie waren nur Beobachter eines wohlhabenden und gleichgültigen Landes. Jede Regierung rechtfertigt ihre Taten gegenüber der Geschichte und ihrem Volk mittels Propaganda. Sie haben Ihre Propaganda, wir haben unsere. Wenn man in seinem Leben nichts tut, dann möge man außerhalb stehen und alles mit seinen eigenen Augen, nicht mit den Augen anderer sehen. Man sieht etwas in einem Buch. Also muß es wahr sein, weil es dort auf dieser Seite steht.
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Die Deutschen hatten angeblich im Ersten Weltkrieg Leichenfabriken und nagelten Kleinkinder an die Wand. Es muß wahr sein, denn die Briten haben das gesagt. Andererseits haben Sie all Ihre Indianer umgebracht und einen Großteil Zeit damit verbracht, Schwarze an Bäumen aufzuhängen. Dann gibt es die Juden, von denen jeder weiß, daß sie die Säuglinge der Nicht-Juden umbringen und als Teil ihres religiösen Kultes essen. Über welchen Unsinn sollen wir noch reden? Über das Arbeiter- und Bauernparadies? Die Freuden des Kommunismus? Lenin, der Tote auferweckt und auf dem Wasser geht zur Erbauung von Generationen von schwachsinnigen Professoren und schlechten Dichtern? Wie wäre es mit den Briten, welche die Iren abschlachteten? Oder die Belgier, wie sie im Kongo die Schwarzen mit Peitschen und Schrotkorn zivilisierten? Oh, denken sie an die Armenier, die von Türken gepeinigt wurden. Bedenken Sie nun: Die Briten haben in Südafrika im ersten Konzentrationslager weiße Menschen umgebracht. Da ich nun nicht mehr als Polizist arbeite, kann ich meine Freizeit nutzen, indem ich nach rückwärts schaue, schaue, woher ich kam, und ich versuche, dabei eher die Sicht des Adlers zu haben, der über die Landschaft fliegt, als die Sicht des Wurmes, der auf dem Boden kriecht.
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Kommentar
Man glaubt, daß die Durchführung des Euthanasiepro-grammes auf Hitler zurückgeht, aber das einzige Dokument, das dies bestätigen könnte, ist eine Ablichtung einer handschriftlichen Notiz Hitlers an Philip Bouhler, den
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Chef der Kanzlei des Führers der NSDAP.' Diese Notiz wurde im Oktober 1939 geschrieben, aber auf den l. September zurückdatiert. Aus Hitlers Gesprächen geht hervor, daß er für das Töten aus Mitleid war, aber nur in besonderen Fällen und nur, wenn diese Fälle umfassend von staatlichen Behörden geprüft worden waren. Es finden sich keine Unterlagen, aus denen hervorgeht, daß Hitler wollte, daß eine große Zahl von Alten und Geisteskranken getötet werden solle.
Clemens August Graf von Galen (1878-1946) war Erzbischof zu Münster und wurde dann von Papst Pius XII. zum Kardinal ernannt. Er stammte aus einer alten Familie und war, wie Müller erwähnte, ein entschiedener Nationalist und Konservativer. Trotz dieser Geisteshaltung nahm der Bischof, der später als Löwe von Münster bekannt wurde, nicht nur Anstoß am Euthanasieprogramm, sondern griff es mit heftig an. Die Schlußpredigt vom 3. August 1941 war umfassend, genau und kritisierte das System nachdrücklich:
»Wie ich nun zuverlässig erfahre, hat man auch in den Heil- und Pflegeanstalten von Westfalen Listen aufgestellt, die Fälle von Menschen enthalten, die man als unproduktiv ansieht und die innerhalb kurzer Zeit vom Leben befreit werden sollen. Der erste Transport verließ Mariental in der Nähe von Münster im Laufe dieser Woche...Ich bin mir darüberhinaus sicher, daß man im Reichsinnenministerium wie auch im Amt des Reichsgesundheitsführers Dr. Conti nicht verbirgt, daß in der Tat eine große Anzahl von Geisteskranken bewußt getötet worden ist und diese
* Fall l, Übertragung 2690.
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Tötungen auch künftig fortgeführt werden... Warum sollten diese schutzlosen Kranken sterben? Einfach weil sie auf Grund des Urteils irgendeines Arztes oder irgendeiner Kommission zur Gruppe der Lebensunwerten gehören. Sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr funktioniert, wie ein gelähmtes Pferd, wie eine Kuh, die keine Milch mehr gibt! Was geschieht mit einer alten Maschine? Sie kommt zum Schrottplatz. Was geschieht mit nutzlosen Pferden? Mit nutzlosen Kühen?... Aber ist es eine Frage für Menschen wie wir es sind, wenn unsere Brüder und Schwestern, Schande der Menschheit und Schande dem deutschen Volk, wenn das Heilige Gebot Gottes ›Du sollst nicht töten!‹, das unser Schöpfer vom Beginn der Menschheit an in unseren Geist eingemeißelt hat, nicht nur verletzt wird, sondern wenn diese Verletzung sogar noch geduldet wird und straflos bleibt!«
Diese Predigt wurde gedruckt und in ganz Deutschland bis in die Wehrmacht hinein weit verbreitet. Der darauf folgende Unmut hatte für Hitler eine verheerende Wirkung. Wie Müller erwähnte, wurde das Programm abgebrochen. Der Bischof blieb für heftigen Angriffe auf das Programm ungestraft wie auch diejenigen ohne Bestrafung blieben, die das Programm in die Wege leiteten. Müllers zuletzt niedergelegte Kommentare zum moralischen Niedergang der Gesellschaft und der Notwendigkeit eines starken moralischen Zentrums spiegeln seine religiösen und politischen Ansichten wieder, die durch seine lange Erfahrung sowohl als Polizist in der Weimarer Zeit als auch im Dritten Reich geprägt sind. Müller war ein strenger Katholik und konservativ. Seine Kommentare zu den Beweggründen des Bischofs von Galen spiegeln seine eigenen Ansichten wieder. Die Betroffenheit durch die Behinderung der eigenen Tochter meldete sich. In sol-
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chen Fällen suchen beide Elternteile die Schuld für die Zeugung eines Behinderten beim anderen, Müller zog schließlich von Hause weg in sein Büro und arbeitete dort sechs Tage in der Woche vierzehn bis fünfzehn Stunden täglich. Sowohl die Übeltäter als auch seine Mitarbeiter bedauerten dies sehr, denn Müller war ein sehr fordernder Mann.
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