KURT GERSTEIN

Eine der zweideutigsten Persönlichkeiten jener Zeit war Kurt Gerstein, der ebenso in der Tat existierte wie er auch mit einer geheimnisvollen Aura umgeben ist. Seine »Geständnisse« über die Konzentrationslager haben bei den verschiedenen Richtungen der Geschichtsschreibung sowohl Freude als auch Entsetzen hervorgerufen. Gersteins Glaubwürdigkeit gilt in der Wissenschaft als höchst umstritten. Im folgenden werden die geheimnisvolle Persönlichkeit und seine letzten Tage eindringlich geschildert.

F.: Ich möchte einen Namen erwähnen, um festszustellen, ob Sie etwas über einen SS-Mann wissen. Ein besonderer Mann. Ich weiß, es gab sehr viele davon..., aber über diesen mußte ich Nachforschungen anstellen, als ich für die Nürnberger Prozesse gearbeitet habe, und es gibt da eine Menge sehr bruchstückhafter Bereiche. Es war eine besondere Lage.

M.: Sie haben völlig recht. Es gab Millionen von SS-Leuten, und ich kannte nur sehr wenige. Wie hieß er?

F.: Kurt Gerstein.

M.: Oh ja, ich erinnere mich an ihn. Niedriger Rang. Hatte mit dem medizinischen Bereich zu tun.

F.: Hatte mit dem Vergasen von ... zu tun

M.: Das ist er. Worum geht es?

F.: Wieso kannten Sie ihn und was wußten Sie?

M.: Manchmal ist es ein Fluch, wenn man ein zu gutes Gedächtnis hat, kann ich Ihnen sagen. Es geht einem dann so viel Mist durch den Kopf. Gerstein war mit Ihrem lieben Freund Globocnik in Lublin...

193


F.: Weniger Sarkasmus bitte.

M.: Nun, er ist sicherlich nicht ein guter Freund von mir. Ich wurde auf Gerstein Anfang 1941 aufmerksam, glaube ich. Oder vielleicht erst Ende 1943- Es war zu dem Zeitpunkt, als Himmler Globocnik veranlaßte, seine Lager zu schließen und jede Spur davon zu verwischen. Es kann auch ein oder zwei Monate früher sein. Himmler führte mit mir über diesen Mann ein vertrauliches Gespräch. Gerstein ging umher und machte verleumderische Aussagen über die SS. Himmler hatte ihn festnehmen lassen. Was ihn aber beunruhigte, war, daß es Gerstein zufolge dort große Mengen an Vergasungen gab; Zehntausende würden täglich umgebracht. Gerstein erwähnte auch, der Führer sei dabei anwesend gewesen usw. Himmler war wegen dieser Globocnik-Sache...., wegen der Lager in Lublin und anderen Orten, die Globocnik kontrollierte, vor Wut und Angst hin- und hergerissen gewesen. Das Ganze sollte kein Fall werden, sollte nicht bekannt werden. Gerstein war zu verschiedenen Leuten gegangen und hatte diese Märchen erzählt. Wir..., die Gestapo, erhielten davon Kenntnis.... Und jemand hat sofort Himmler unterrichtet. Aufgrund einer Voruntersuchung meinte er, daß dieser Mann nicht richtig im Kopf sei, war sich aber nicht sicher, was er mit ihm machen sollte.

F.: Und Sie wurden aufgefordert, eine Lösung vorzuschlagen?

M.: Richtig. Wir ließen Gerstein aus der Zelle holen, und ich befragte ihn sehr nachdrücklich. Ich bin kein Psychiater, konnte aber sehen, daß der Mann hochgradig nervös war und keinen vernünftigen Eindruck machte. Daher ließ ich von der Charite einen diskreten Psychiater holen, der dann dabei saß und mit mir zusammenarbeitete. Verbrecherische wie politische Fälle bereiteten mir keine

194


Schwierigkeiten, aber Fälle, bei denen es um Geisteskranke ging, waren nicht mein Fall, müssen Sie wissen. Es lohnt nicht, das ganze Gespräch durchzugehen. Ich werde es für Sie zusammenfassen. Nebenbei bemerkt, wurde über Gerstein in Nürnberg verhandelt?

F.: Nein. Können Sie mir sagen, was Sie wissen, und ich werde Ihnen dann mein Interesse erklären.

M.: Gerne. Dieser Mann hatte technische Kenntnisse..., eine Art Universitätsausbildung, und er war ein religiöser Eiferer. Offensichtlich bewegte er sich von einer Gruppe in die andere..., er ist Protestant..., und beschäftigte sich immer mit etwas Neuem. Ein ziemlich harmloser Gschaftlhuber*. Die Gestapo hatte ihn schon mehrmals vorgeladen und gewarnt, seinen religiösen Eifer nicht ins Politische einmünden zu lassen. Während des Krieges schloß er sich der SS an, die ihn wegen seines Hintergrundes allerdings nur widerstrebend nahm; aber jeder wurde gebraucht. Er kam zur Desinfektionsabteilung des Medizinischen Dienstes der SS und wurde nach Lublin geschickt. Das ist das Gebiet, in dem Globocnik seine jüdischen potemkinschen Dörfer bauen ließ. Himmler wollte die ansässigen polnischen Juden sowie die deportierten Juden nehmen und sie im Osten Polens eine eigene, von ihnen kontrollierte Gemeinschaft aufbauen lassen. Diese Juden sollten in kleinen Fabriken arbeiten und das Reich mit Fertigwaren sowie mit Rohstoffen versorgen. Frank, der Gouverneur des Generalgouvernements, machte da nicht mit. Er wollte Deutsche in diesem Gebiet und durchkreuzte damit Himmlers seltsame Vorstellungen. Sie müs-

* Bayer. Ausdruck für Wichtigtuer.

19S


sen wissen, daß Himmler an die seltsamsten Dinge glaubte. Und da war noch sein lieber Freund Globos, ein Mitarbeiter seines Führungsstabes und so dumm wie Bohnenstroh, der versuchte, die kleinen glücklichen Fabriken und Dörfer für die deportierten Stadt Juden aufzubauen, damit diese Pelzmäntel herstellen konnten. Globocnik hatte es mit der völligen Dummheit der Polen zu tun, hatte Schwierigkeiten mit Frank und zu guter Letzt mit großen Mengen plötzlich ankommender Juden für sein jüdisches Arbeiterparadies. Natürlich log Globocnik Himmler an und sagte, seine Bemühungen seien Tag für Tag erfolgreicher. So wurde er dann mit Massen von Juden eingedeckt, für die er keinen Platz und keine Nahrungsmittel hatte. Da ihm nichts Besseres einfiel, fing er an, sie umbringen zu lassen. Doch immer mehr Juden kamen an. Globocnik konnte einige hundert umbringen, indem er sie in den hinteren Teil eines Lieferwagens verfrachtete und die Abgase einleitete. Aber dies dauerte Stunden und war wirklich schrecklich. Das Auto war voll von dem, was wir Polizisten gerne als menschliche Flüssigkeiten und Gestank bezeichnen. Einer meiner Mitarbeiter ging auf meine Anordnung dorthin, als ich davon hörte. Und er kam grün im Gesicht zurück. Das können Sie mir glauben, Globos und sein lieber Freund Wirth konnten diese armen Wesen nicht schnell genug umbringen, bis dieser Gerstein, der im Desinfektionswesen tätig war, seinen wunderbaren Vorgesetzten glücklich vorschlug zu zeigen, wie man viele Menschen sauberer und in größerer Zahl umbringen konnte. Gerstein ließ ein luftdichtes Gebäude mit einer Tür und einem Loch im Dach errichten. Zuerst füllten sie den Raum mit Juden, und dann stieg Gerstein aufs Dach, öffnete die Klappe, warf Kapseln mit Zyklon-B in den Raum hinunter und verschloß die Klappe fest. Ich

196


meine, daß dies ganz gut klappte.., viel besser als das Verfahren mit dem Lieferwagen.

F.: Dies habe ich nicht erwartet. Doch machen Sie weiter.

M.: Gerstein steckte nun in dieser furchtbaren Sache mit drin, da er sich als Fachmann nach vorne gespielt hatte. Und da stand er nun auf dem Dach und vergaste Juden. Schließlich drehte er durch, begann Wahnvorstellungen und furchtbare Alpträume zu haben. Daher wurde er von diesem Posten entfernt; es war jedoch zu spät. Nun fing er an, jedem zu erzählen, er habe diese Dinge gesehen, nicht getan und versuchte sein Gewissen bei Gott zu erleichtern, indem er sich einredete, er sei nur ein unwilliger Zeuge gewesen. Dies war, nebenbei bemerkt, in einigen dieser Lager nichts Ungewöhnliches. Die meisten Leute konnten mit so furchtbaren Vorgängen nicht leben. Viele wurden verrückt, während sich andere das Leben nahmen.

F.: Und Gerstein wurde verrückt?

M.: Ganz genau. Er verlor den Verstand, ging durch Berlin, sprach zu religiösen Menschen...; er wollte selbst den Papst aufsuchen, um seine Seele zu läutern. Ich vermute, daß sich die Protestanten in Zeiten echter Krisen nach Rom wenden. Würden Sie dem zustimmen?

F.: Lassen Sie bitte hier die Religion aus dem Spiel.

M.: Ich habe meine Meinung gesagt. Nach einem dreistündigen Gespräch mit Gerstein war ich in der Lage, neben seinem religiösen Tick, auch Tatsachen zu erfahren. Ich ließ meine persönliche Sekretärin das Geständnis niederschreiben. Ich verfolgte damit die Absicht, mehr Beweise gegen Globocnik zu bekommen. Ich plante noch immer, ihn zu bekommen, wenn ich konnte. Der Arzt ließ mich wissen, daß Gerstein Wahnvorstellungen habe und

197


sich davon kaum wieder erholen werde. Er sagte mir auch, Gerstein sei gezwungen, sich ständig zu wiederholen im Bemühen, seine Schuld an diesem Verbrechen abzustreiten. Ich sagte zu dem Arzt, ich würde ihn auf der Stelle erschießen lassen, wenn er je davon etwas erwähnen würde. Er hat mich sicherlich richtig verstanden.

F.: Und Gerstein?

M.: Nun, wir ließen ihn in ein Heim einweisen, ein privates Heim. Himmler wollte ihn erschießen lassen. Aber ich machte klar, daß wir Gerstein wie jemanden behandeln sollten, der völlig verrückt war. Gott allein weiß, mit wie vielen Leuten er gesprochen hatte. Ihn hinzurichten, würde seinen Geschichten nur mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Die Geschichten, so weit sie das Vergasen anbelangten, erwiesen sich durchweg als wahr. Aber Gerstein hatte Hitler, Himmler und jeden anderen damit hineingezogen. Nach Gerstein sah Hitler einer Hinrichtung in Auschwitz zu. Er sprach von Konferenzen mit Himmler, bei denen selbst größere Vergasungen erörtert worden seien. Natürlich war Hitler nie in Auschwitz, und Himmler hat nie mit Gerstein gegessen. So weit ich weiß, ist Gerstein noch immer in der Anstalt, und vielleicht können Sie mir sagen, warum Sie an ihm interessiert sind.*

F.: Sicherlich. Offensichtlich kam er aus der Anstalt heraus und lebte in einer Kleinstadt im Westen. Als die Amerikaner dort einrückten, wurde er sehr hysterisch. Eines Morgens fand man ihn tot in seiner Wohnung; er hatte sich auf dem Dachboden an einem Sparren aufgehängt. Er hatte seine Uniform angezogen. Und als der CIC

* Anm. des Verlages: Man sieht hier deutlich die vom Verfasser eingangs geschilderte äußerst flexible Taktik Müllers.

198


kam, dachte man, es handle sich um eine wichtige Person, vor allem deswegen, weil der Vermieter ihnen mitteilte, daß Gerstein ihm einen Koffer voller wichtiger Dokumente gegeben habe.* Sie konnten für Gerstein, der schon zu riechen anfing, nichts mehr tun. So beerdigte man ihn und arbeitete sich durch seine Dokumente hindurch. Ich habe sie gesehen und ich stimme mit Ihnen und dem CIC-Chef überein: Gerstein war krank. Einige seiner Anklagen war unmöglich, während andere einen Sinn ergaben. Daher nahm die Nürnberger Anklagevertretung etwas daraus und etwas daraus. Und so erstellte man ein aufschlußreiches und schreckliches Dokument. Es mußte natürlich neu getippt werden, und in Englisch sein. Bei den Gerichtsverhandlungen gab es dann damit Schwierigkeiten. Ich meine, Sie haben mir gesagt, was ich die ganze Zeit über gedacht habe. Aber Sie wissen ja, daß dieser Mensch einen gewissen Ruf als großer Held des Widerstandes hat. Wie ironisch, daß er der Erfinder der Zyklon-B-Geschichte ist. Ich meine, seinen Unterlagen zufolge...; er erwähnte enge Beziehungen zu Dr. Niemöller...

M.: Oh ja. Ich vergaß, daß Niemöller wegen Aufwiegelung im Gefängnis saß, und ich erinnere mich, daß Gerstein behauptete, er sei täglich mit ihm in Verbindung gestanden.

Da es sich dabei um einen ernsthaften Verstoß gegen unser Sicherheitssystem im Gefängnis gehandelt hätte,

* Anm. des Verlages: Diese Aussage ist unzutreffend. Gerstein floh im April 1945 vor den deutschen Truppen und ergab sich der l. Französischen Armee, wurde verhaftet, mehrfach verhört und erhängte sich am 25. Juli 1945 in seiner Gefängniszelle (vgl. Henri Roques, »Die Geständnisse« des Kurt Gerstein.

199


habe ich persönlich nachgeforscht. Nichts von alledem. Niemöller hatte nie von Gerstein gehört und stand auch nie mit ihm in Verbindung. Auch stand er nicht in Verbindung mit Vertretern des Heiligen Vaters. Und ich weiß nicht, ob Gerstein es Ihnen erzählt hat: Der Vatikan wollte auch kein Privatflugzeug schicken, um Gerstein für eine persönliche Audienz mit dem Papst nach Rom zu bringen.

F.: Ich habe das gesehen. Natürlich glaubte ich es nicht.

M.: Gerstein hatte Angst, daß die Amerikaner oder die Russen von seinen Dachspielen Kenntnis erlangen und ihn hängen würden. Zuerst hatte er einen Nervenzusam-menbruch und dann erfand er Geschichten, um sich zu retten. In der allerletzten Minute, als die Amerikaner nur wenige Kilometer weg waren, richtete er sich selbst auf dem Dachboden*. Ich habe nach wie vor sein unterschriebenes Geständnis, sofern Sie es wollen. Es ist das Original. Eine Abschrift schickte ich an Himmler und eine weitere befand sich bei den Akten des RSHA. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen keine Helden aus Dreck machen, nicht wahr? Sie haben nun Globocnik und seinen lieben Kumpanen Wirth in irgendeinem teuren Badeort und versuchen, Geld aus ihm herauszuholen, und einen Koffer voller verrückter Geschichten, die nun in die Geschichte eingegangen sind.

F.: Ich war immer der Meinung, daß den Gerstein-Doku-menten nicht zu trauen ist. Ich bin nicht der einzige, aber Kempner war überglücklich...

M.: Dieser war bis zu seiner Flucht im Preußischen Justizministerium tätig. Und nun ist er bei Ihnen. Washing-

* Vgl. Fußnote S. 198.

200


ton muß einer Mischung aus einem Irrenhaus und einem Zoo ähneln.

F.: Manchmal muß ich Sie zu Ihrer Beobachtungsgabe beglückwünschen. Doch dazu kann ich keine Stellung nehmen. Ich meine, wir sollten uns nun anderen Themen zuwenden. Danke. Nun eine persönliche Frage.

MU 13-75-96: 8; S. 39-43

Kommentar

Die verschiedenen, von einander unabhängigen Aussagen Kurt Gersteins werden in der Holocaustliteratur gerne versatzstückartig verwendet. Eine Reihe ihm zugeschriebener Aussagen existieren in verschiedener Form und in unterschiedlichen Fassungen, keine macht viel Sinn, wenn man sie als Einheit auffaßt. Robert M. W. Kempner war Beamter im Justizministerium zu Weimar. Er war aus Deutschland geflohen, da er Jude war. Nach dem Krieg kehrte er als Mitglied der Anklage zurück. Später schrieb er über den Holocaust. Seine Bedeutung ist jedoch wegen der starken ideologischen Befangenheit gering. Gerstein behauptete, er habe Globocnik nach Auschwitz begleitet, wo er Hitler traf, der dort angeblichen Judenvergasungen zusah.

Gerstein ist in seinen Datumsangaben sehr genau, was eine Überprüfung der Behauptungen leicht macht. Denn Hitler kann z.B. zu einem bestimmten, von Gerstein genannten Datum nicht in Auschwitz gewesen sein, weil er zu diesem Zeitpunkt in seinem militärischen Hauptquartier »Werwolf« in der Ukraine war und dort ernsthafte Gespräche mit dem türkischen Außenminister führte. Im

201


Gegensatz zu einer Menge Dokumente, die in die Nürnberger Prozesse eingeführt wurden, waren die Gerstein-Dokumente* keine Fälschungen, sondern die schwerfällig veröffentlichte Entschuldigungen eines von Gewissensbissen gequälten Mannes, der, statt wie behauptet die Juden zu retten, eine Methode entdeckte, sie auf grausame Art hinzurichten, wie sich aus den Müller-Gesprächen ergibt.

* Anm. des Verlages- Neuere Forschungsergebnisse bezweifeln teilweise die Echtheit der Gerstein-Dokumente. Vgl.: Henri Roques: Die Geständnisse des Kurt Gerstein, Berg 1986.

202


Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Zum nächsten Kapitel
Zum vorhergehenden Kapitel
Zurück zum Archive