20. Juli 1944
Der Höhepunkt in Müllers Karriere als Gestapochef war die Untersuchung und Verfolgung der Männer, die eine Verschwörung gegen Hitler planten, welche am 20. Juli 1944 mit dem Bombenattentat im Führerhauptquartier (Wolfsschanze, Ostpreußen) ihren Abschluß fand. Der offizielle Bericht wurde von Müller selbst verfaßt und vermittelt die unmittelbarste Beschreibung des Vorfalls.
Reichssicherheitshauptamt - IV Sonderkommission
20.7.1944
Berlin, den 26. Juli 1944
Bericht über den Attentatsversuch gegen den Führer am 20. Juli 1944.
I.
Am 20. Juli 1944, etwa gegen 12.50 Uhr, ereignete sich in der Wolfsschanze, eingeschränkter Bereich ›A‹, Besuchergebäude, während der Lagebesprechung eine Explosion.
Der Führer erlitt nur leichte Verletzungen, obwohl er sich in unmittelbarer Nähe des Explosionszentrum befand.
Schwer verletzt wurden... General Körten, Hauptmann Brandt und der Stenograph Berger, die inzwischen ihren Verletzungen erlegen sind, General Bodenschatz, General Schmundt, General Scherff und Oberstleutnant Borgmann.
Nicht so schwerverletzt waren... General Buhle, General Heusinger, Konteradmiral v. Puttkamer und Kapitän zur See Assmann.
Weitere Anwesende erlitten leichtere Verwundungen.
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II.
Sofort nachdem der Reichsführer-SS vom Attentatsversuch erfahren hatte, berief er eine Sonderkommission des Reichssicherheitshauptamtes, die noch am gleichen Tag mit den Nachforschungen begann.
In seinem Bericht an das RSHA vermerkte der Reichsführer-SS, daß es sich beim Attentäter vermutlich um Oberst Graf von Stauffenberg, Stabschef des Befehlshabers des Ersatzheeres handelte. Er war bei der Lagebesprechung anwesend, ging dann kurz vor der Explosion weg, ohne etwas zu sagen. Unmittelbar darauf flog er nach Berlin.
III.
Der Ort des Vorfalles befindet sich im Besprechungsraum, in dem die täglichen Lagebesprechungen abgehalten wurden. Der Raum ist 12,5 Meter lang und 5 Meter breit. In der Mitte befindet sich ein großer Kartentisch, rechts ist ein kleiner runder Tisch, links ein Schreibtisch und ein Phonograph (Tonaufnahmegerät). Die unmittelbare Umgebung und das Mobiliar sind stark beschädigt. Rechts vom Eingang befand sich ein 55 cm großes Loch im Fußboden. In einem weiteren Umkreis ist der Boden beschädigt und verkohlt. Einschläge von Metallteilen sind nicht zu entdecken, aber Holzsplitter und Lederteile sind in das Holz eingedrungen.
Das Bombenloch zeigt, daß die Explosion über dem Boden erfolgt ist. Die Wiederherstellung des rechten Teils der drei Teile des Tisches zeigt deutlich die Richtung der Explosionswelle. Dies wird auf Bildern und Skizzen wiedergegeben.
Die geringere Druckwelle der Explosion pflanzte sich in den Hohlräumen unter dem Boden des ganzen Gebäu-
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des fort. Dies zeigt sich an den Verwerfungen des Fußbodens. Die obere Druckwelle zerstörte den Besprechungsraum in hohem Maße und entwich durch Fenster und Türen sowie Trennungswände. Die genaue Untersuchung des Schutts hat zum Fund von überaus kleinen Leder- und Metallteilen geführt, die offensichtlich von einer Aktentasche stammen. Weiterhin zur Entdeckung von zwei Blechteilen und zwei Druckfedern eines englischen Zeitzündern auf chemisch-mechanischer Grundlage; zudem Teile einer flachen Kombizange. Das übrige entdeckte Material hat offensichtlich mit diesen Funden nichts zu tun.
IV.
Die entdeckten Lederteile wurden von Zeugen als Teile der Aktentasche Stauffenbergs erkannt. Kleine Teile des Zünders im Raum stammen von zwei Zündern der Art der zwei englischen Zeitzünder auf chemisch-mechanischer Grundlage, wie sie längs des Weges gefunden wurden. Da zwei Druckfedern aus einem Zeitzünder am Explosionsort gefunden wurden, muß die Bombe zwei solcher Zünder gehabt haben. Die Bombe, die man längs des Weges fand, besaß auch zwei solcher Zünder. Daher war die Ladung, die für das Attentat benutzt wurde, wahrscheinlich von der gleichen Art wie die, die man später fand. Dem Bericht eines Bombensachverständigen zufolge entspricht das Ausmaß der Zerstörung der Explosionskraft der aufgefundenen Bombe. Der Fahrer, der Stauffenberg zum Flughafen fuhr, bemerkte, wie er einen Gegenstand in dem Gebiet aus dem Fenster warf, in dem Sprengstoff gefunden wurde. Der Fahrer hat dies zu Protokoll gegeben. Insofern ist die Täterschaft Stauffenbergs objektiv erwiesen.
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V.
Als Stabschef unter General Fromm nahm Stauffenberg wiederholt an den Besprechungen im Führerhauptquartier teil. Er kannte insofern die Örtlichkeiten sehr gut. Stauffenberg landete am 20. Juli 1944 um 10.15 Uhr auf dem Flugplatz Rastenburg. Generalmajor Stieff, Chef der Organisationsabteilung des Generalstabes der Wehrmacht, und Oberleutnant von Haeften, Stauffenbergs Ordonnanzoffizier, kamen zur gleichen Zeit an. Stauffenberg ging direkt zur Wolfsschanze, Stieff zum Gebäude des Wehrmachtoberkommandos; ihm schloß sich von Haeften an, der sich später mit Stauffenberg in der Wolfsschanze treffen sollte.
Stauffenberg frühstückte mit dem Chef des Hauptquar-tieres in der Offiziersmesse und wurde später zu einer geplanten Besprechung mit General Buhle gerufen. General von Thadden, Chef des Wehrbezirkes I, Königsberg, nahm ebenfalls an dieser Besprechung teil. Danach gingen Buhle, von Thadden und Stauffenberg zu einer Besprechung mit Generalfeldmarschall Keitel.
Stauffenberg hatte die ganze Zeit über die Aktentasche bei sich. Als alle erwähnten Personen um 12.30 Uhr von Keitels Bunker auf dem Weg zur täglichen Lagebesprechung waren, ging Stauffenberg mit der Aktentasche für kurze Zeit in einen Raum nebenan, so daß die anderen auf ihn warten mußten. Während er in diesem Raum war, hat er vermutlich die Zeitzünder mit einer Kombizange aktiviert, da seine rechte Hand und zwei Finger an der linken Hand fehlten. Es wäre für ihn schwierig gewesen, die Zeitzünder ohne ein solches Hilfsmittel zu aktivieren. Im Besprechungsraum wurde Stauffenberg dem Führer als Teilnehmer der Einsatzbesprechung vorgestellt und von ihm willkommen geheißen. Danach ging Stauffenberg zum
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Kartentisch und stellte die Aktentasche rechts neben Hauptmann Brandt unter den Tisch. Nach kurzer Zeit verließ er den Besprechungsraum und auch den Sicherheitsbereich A.
Stauffenbergs Abwesenheit wurde kurz vor der Explosion bemerkt, da er Auskünfte liefern sollte. General Buhle suchte nach ihm. Nach der Explosion sagte der Telephonist, Feldwebel Adam, er habe gesehen, wie Stauffenberg kurz nach Beginn der Lagebesprechung gegangen sei. Wahrscheinlich sei er der Attentäter, sagte der Feldwebel. Auf Grund weiterer Befragungen und Nachforschungen ergab sich folgendes Bild: Gegen Mittag erschien General Fellgiebel, Chef des militärischen Fernmeldewesens im Büro des Fernmeldeoffiziers des Hauptquartieres (Oberst Sander), um einige dienstliche Fragen mit ihm zu besprechen. Fellgiebel und Sander gingen dann wegen Fragen in Sachen Fernmeldetechnik zu Oberst Waizenegger im Stab von General Jodl. Später gingen dann Fellgiebel und Sander zu Sanders Büro im Bunker 88 zurück.
Sie bemerkten, wie gegen 12.30 Uhr Feldmarschall Keitel in Begleitung von Stauffenberg und anderen zur Lagebesprechung gingen. Um sicher zu gehen, daß Stauffenberg mit General Fellgiebel nach der Besprechung zusammentraf, rief Sander Feldwebel Adam an und sagte ihm, er möge veranlassen, daß Stauffenberg nach Ende der Lagebesprechung zum Bunker 88 kommen solle.
Kurz danach kam Oberleutnant von Haeften in Sanders Büro und bat Fellgiebel um Hilfe bei der Beschaffung eines Fahrzeuges, da Oberst Stauffenberg sofort aufbrechen müsse. Sander rief demzufolge das Hauptquartier an, um ein Auto zu besorgen. Zur gleichen Zeit wurde er vom Hauptquartier aufgefordert, Stauffenberg daran zu erinnern, daß man ihn zum Mittagessen mit Oberstleutnant
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Streve erwarte, und daß General von Thadden auch anwesend sein werde.
Während dieses Anrufs kam Stauffenberg ins Büro und teilte General Fellgiebel mit, er stehe für das Gespräch zur Verfügung. Fellgiebel und Stauffenberg verließen dann den Bunker, um draußen die Verteidigungsanlagen im Osten zu erörtern. Sander schloß sich ihnen an und teilte mit, das Auto komme, und fügte hinzu, man erwarte Stauffenberg zum Mittagessen beim Kommandanten. Stauffenberg sagte daraufhin zu Oberstleutnant Sander, er müsse zuerst noch einmal zur Lagebesprechung und komme dann zum Mittagessen. Erwies auch daraufhin, ihm stehe nun ein Auto zur Verfügung. Als Sander das Hauptquartier entsprechend unterrichtet hatte und vor den Bunker gegangen war, erfolgte die Explosion. Da bemerkte Sander ein sehr nervöses Verhalten bei Stauffenberg. In Erwiderung auf Fellgiebels Frage, was geschehen sei, antwortete Sander, ohne über den Vorgang groß nachzudenken, jemand habe wohl ein Gewehr abgeschossen oder eine Landmine sei explodiert.
Da sagte Stauffenberg, er wolle nicht zur Lagebesprechung zurückkehren, sondern zum Mittagessen mit Oberstleutnant Streve gehen. Er fuhr dann mit von Haef-ten weg, wohl um zum Flugplatz zu fahren.
Der Vorfall im Besucherbunker wurde vom Wachposten I bemerkt, so daß der diensthabende Offizier die Schranken schließen ließ. Dementsprechend wurde Stauffenberg vom Wachtposten aufgehalten. Er teilte dem diensthabenden Offizier mit, er müsse dringend zum Flugplatz. Da sein Paß in Ordnung war, und der diensthabende Offizier ihn zudem noch kannte, ließ ihn der Letztere durch, zumal noch kein allgemeiner Alarm gegeben worden war. Dieser kam eineinhalb Minuten später. Am süd-
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lichen Außenposten wurde Stauffenberg wieder angehalten. Er ging zu Feldwebel Kolbe, dem Chef der Wache. Er sagte ihm, er müsse unbedingt sofort zum Flugplatz. Anstatt überzeugt zu sein, deutete Kolbe auf die geschlossenen Schranken. Dann rief Kolbe auf Stauffenbergs Drängen das Hauptquartier an und sprach mit dem Adjutanten, Hauptmann der Kavallerie von Möllendorf. In Abwesenheit des Kommandanten, der an der Explosionsstelle war, war er zuständig. Stauffenberg sagte von Möllendorf, er habe vom Kommandanten die Erlaubnis, den Sicherheitsbereich zu verlassen. Er müsse auf jeden Fall um 13.15 Uhr fliegen. Der Adjutant, der den Grund für den Alarm nicht kannte, wußte, daß Oberst Stauffenberg Zugang zur Wolfsschanze hatte. Er stimmte in Anbetracht der gewichtigen Argumente Stauffenbergs zu, daß er fahren könne. Er teilte dies Feldwebel Kolbe mit.
In dieser Lage sollte beachten werden, daß...
1. ziemlich häufig Alarm ausgelöst wird;
2. Stauffenbergs Papiere in Ordnung waren;
3. von Möllendorf keinen Grund hatte, anfangs mißtrauisch zu sein, da Stauffenberg als schwerbehindert und als Offizier von Format bekannt war. Stauffenberg gelangte auch durch das äußerste Tor und flog um 13.15 Uhr von Rastenburg nach Berlin-Rangsdorf. Nachforschungen nach der Herkunft der Maschine haben ergeben, daß Stauffenberg sie auf Anordnung von General Wagner, dem Generalquartiermeister der Wehrmacht, in Absprache mit der l. Luftstaffel (2) Berlin, vom Flugplatz Lötzen erhielt. Die Maschine sollte auf jeden Fall nach Berlin fliegen.
VI.
Im Licht dieses Berichtes kann man davon ausgehen, daß die Umstände des Attentatsversuches und die Ankunft
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wie der Abflug des Attentäters richtiggehend geplant waren.
Es kann nicht daraus gefolgert werden, daß die bestehenden Sicherheitsmaßnahmen als Schutz gegen solche Versuche in diesem Fall zusammengebrochen sind, da die Möglichkeit, daß ein Generalstabsoffizier, der zu einer Lagebesprechung befohlen war, sich zu einem solchen Verbrechen hergeben würde, nicht berücksichtigt wurde. Der Vorfall erfordert indes Überlegungen für die künftigen Sicherheitsmaßnahmen, die zum Schutz des Führers unter allen Umständen zu ergreifen sind. Dementsprechend werden Vorschläge für Sicherheitsmaßnahmen in Absprache mit dem RSHA getrennt unterbreitet.
*
F: Berichten Sie mir über Ihre Rolle und die Rolle der Gestapo bei der 20.Juli-Verschwörung.
M: General Kaltenbrunner war der Chef des SD und war für die ganze Untersuchung zuständig. Aber die Verhöre der Verdächtigen und die Abfassung der einzelnen Berichte lag die ganze Zeit über in meinen Händen.
F: Hat Kaltenbrunner Ihnen diese Aufgabe übertragen?
M: Nein. Hitler persönlich hat mir die Aufgabe übertragen. Er wollte, daß ich alle Macht bekomme, um jede Spur zu verfolgen und um jeden Verdächtigen, den ich über die Verhöre fand, schnell zu verhaften. Es gab eine Sonderkommission 20. Juli unter meiner Leitung. Ich hatte einen Mitarbeiterstab von rund 400 Spezialisten und erhielt von Hitler außerordentliche Vollmachten. Ich unterstand nur Hitler, wenn es offensichtlich war, daß hochrangige Persönlichkeiten in das Attentat verwickelt waren. Hitler allein entschied, was in den offiziellen Bericht kam und was draußen blieb.
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F: Haben Sie Hitler in dieser Zeit häufig gesehen?
M: Genau kann ich das nicht sagen. Ich müßte in meinen Unterlagen nachsehen, um genau zu antworten. Einige Male.
F: Waren Sie dann mit Hitler allein?
M: Ja, natürlich. Ziemlich häufig. Alles hing vom Material ab, das ich für ihn hatte. Wenn es sehr bedeutend war, mußte Bormann draußen warten. Ich erinnere mich, daß Bormann darüber überhaupt nicht erfreut war, und ich erwähnte dies einmal gegenüber Hitler. Er antwortete, Bormann sei ein Mensch, den er schätze, aber gewisse Dinge seien aus irgendeinem Grund nicht geeignet, offen dargelegt zu werden. Er sagte auch, Bormann wolle die Wehrmacht im allgemeinen angreifen und müsse zum Schweigen gebracht werden. Wenn ich je deswegen mit Bormann Probleme hätte, solle Hitler sofort unterrichtet werden. Die privaten Besuche, nebenbei bemerkt, waren wirklich privater Natur. Ich flog mit der Kuriermaschine zum Hauptquartier oder fuhr auch einige Male mit dem Zug. Meine Besuche wurden nicht vermerkt und geheim gehalten. Ich mußte Hitler nur aufsuchen, wenn er sozusagen dienstfrei hatte.
F: Aber Bormann war doch immer bei Hitler, nicht wahr?
M: Die meiste Zeit über. Bormann kontrollierte Hitler nicht, nur den Zugang zu ihm, müssen Sie wissen. Wen Hitler sprechen wollte, den sprach er auch. Die meiste Zeit über wollte er nicht mit kleinlichem Bürokratenunsinn belästigt werden und benutzte Bormann, um hohe NSDAP-Funktionäre daran zu hindern, ihm auf die Nerven zu gehen. Hitler ließ sich darin in der Tat von niemandem kontrollieren. Bormann war Hitler sicherlich nützlich. Aber Bormann wachte eifersüchtig über seine
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Stellung und war über alle Maßen rachsüchtig, wenn ein Schwächerer versuchte, an Hitler heranzukommen. Ich sagte schon, daß Bormann meine Besuche nicht mochte und einige bescheidene Versuche machte, mich daran zu hindern. Aber Hitler stutzte ihn zurecht. Natürlich machte das Bormann umso wütender. Aber er kontrollierte nur den Parteiapparat. Und ich kontrollierte die Gestapo. Daher konnte er weder meine Familie noch meine Freunde schikanieren. Sie sehen also, daß Bormann letzendlich diesen Kampf verlor. Und ich vergesse auch nichts.
F: Ich habe einige Fragen zu Bormann, aber wir werden später darauf zurückkommen. Hatten Sie vor dem 20. Juli mit Hitler zu tun?
M: Ich habe Hitler zuvor einige Male getroffen. Zu Anfang, als ich die Gestapo übernahm, habe ich ihn nicht viel getroffen. Meist nur bei Feierlichkeiten.
F: Wie sind Sie mit Hitler ausgekommen?
M: Sie müssen sich erinnern, daß vor der Machtübernahme meine Abteilung der Bayerischen Polizei mit seiner Partei zu tun hatte, und wir seine Leute oft verfolgten. Hitler hatte keinen Grund, mich persönlich besonders zu mögen. Auch viele bayerische Parteimitglieder waren nicht besonders erfreut wegen meiner Ernennung.
F: Wie kamen Sie in die SS, wenn Sie der Partei solche Schwierigkeiten bereitet haben?
M: General Heydrich brachte mich und einige Mitstreiter der politischen Abteilung nach der Machtergreifung in die nationale Polizeibehörde. Heydrich war ein hochintelligenter und praktisch veranlagter Mann, der vieles überblickte. Bedenken Sie auch bitte, daß meine Abteilung auch hinter den Kommunisten her war. Und wir behandelten sie härter als die Nationalsozialisten.
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F: Hatte Hitler andere Gründe, Sie nicht zu mögen oder Ihnen zu mißtrauen?
M: Mein Schwiegervater war ein politischer Systemgegner, und ich war immer ein gläubiger Katholik. Ich trat erst in die Partei ein, als ich dazu gezwungen wurde. Als Hitler in die Politik ging, und vor allem in Wien, mochte er die Polizei, von der er sagte, sie verfolge ihn immer, nicht. Hitler war sehr arm, und diese Schicht hat immer Angst vor der Polizei.
F: Aber später kamen Sie besser mit ihm aus, nicht wahr?
M: Ich denke ja. Bei Hitler ist es schwierig zu sagen, was er wirklich über etwas dachte. Später wurde er zu mir viel freundlicher. Und in Berlin war er mir gegenüber sehr offen und gerade heraus. Er konnte sogar privat sein. Und wenn man ihn in der Öffentlichkeit gesehen hatte, war es eine große Überraschung zu entdecken, daß er sehr menschlich war und man sich leicht mit ihm unterhalten konnte. Hitler konnte manchmal tatsächlich sehr spaßig und unterhaltsam sein. Er konnte Leute auf eine sehr einfühlsame und grausame Weise nachahmen. Einmal machte er Himmler nach: Stimme und Gestik, einfach bemerkenswert. Hitler hatte ein gutes Auge für den wahren Charakter eines Menschen und konnte fast von Beginn an einen Menschen durchschauen. Aber er verbarg so viel.
Hitler war ein Mann, der immer auf einer Bühne war, immer vor einem Publikum auftrat. Aber zu Hause, sozusagen, war er ruhig, normal und sehr angenehm. Hitler war auch aufbrausend, aber nur wenn man ihn anlog. Und dann kam die Wut blitzschnell über ihn. Ich meine, sein größter Fehler war sein gefühlsbetontes Wesen. Er konnte äußerst logisch sein. Aber eine Bemerkung konnte ihn aus der Fassung bringen, und er war ziemlich leicht in Wut zu bringen. Wie ich schon sagte: Wenn es die Möglichkeit
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gab, abzuschalten, dann war er imgrunde genommen sehr intelligent und sehr vernünftig. Zumindest lernte ich ihn so später kennen, als er mich brauchte, so daß ich nicht sagen kann, was Hitler wirklich über mich dachte. Um Ihre Frage genau zu beantworten: Ja, gegen Kriegsende kam ich recht gut mit ihm aus, sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Hinsicht.
F: Sie sprachen von der Sonderkommission 20. Juli, die Sie leiteten. Können Sie mir etwas Allgemeines über diese Verschwörung sagen? Ich meine, Sie wissen mehr über das, was tatsächlich geschah, als irgendjemand anderer. Es haben z. B. einige Leute überlebt. Sie sind zu uns gekommen, um für uns zu arbeiten. Sie wollen Politiker in der Regierung unserer Zone werden. Und es könnte lehrreich sein, Ihre Ansichten über die Motive und die Personen zu erfahren. Können Sie ganz allgemein dazu Stellung nehmen?
M: Ich habe mehr Unterlagen über den 20. Juli, als Sie sich vorstellen können. Wo soll ich beginnen?
F: Geben Sie einfach einen Überblick. Wer stand dahinter, ich meine das Attentat. Die beteiligten Leute, ihre Beweggründe usw.
M: Es gab, als der Krieg weiterging, viele unzufriedene Leute. Anfänglich haben zahlreiche Linke und Intellektuelle die weniger angenehmen Seiten der neuen Regierung nicht gebilligt. Die frühen SA- und NS-Typen waren imgrunde genommen Straßenräuber und Rabauken, und ihre Handlungen beleidigten viele Menschen. Hitler trennte sich schließlich von den weniger vorzeigbaren Typen und versuchte, seine Regierung für die Mittelschicht annehmbarer zu machen. Er war, so meine ich, darin erfolgreich, obwohl die Intellektuellen und besonders das Militär ihn trotzdem immer verachteten. Die Militärs haben immer in Deutschland regiert, selbst nach dem Krieg. Und sie wa-
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ren und sind noch immer eine sehr klassenbewußte Schicht. Sie ließen den Kaiser fallen, als es ihnen passend erschien, putschten, wenn sie konnten und wollten zu Zeiten der Weimarer Republik eine Marionettenregierung einsetzen, die sie kontrollieren konnten. Das Dumme dabei war, daß diese Marionettenregierungen schwach und wirkungslos waren. Und wenn das Militär sie auch kontrollieren konnte, so besaßen sie doch nicht das Vertrauen der Öffentlichkeit, und Deutschland trieb so dahin. Die Militärs wollten einen Führer, der das Land stark machen konnte, aber zur gleichen Zeit unter ihrer Kontrolle stehen sollte. Als sie Hitler wählten, machten sie aus ihrer Sicht einen schrecklichen Fehler. Niemand hätte es je schaffen können, Hitler zu kontrollieren. Als sie das feststellten, wurden sie wütend und wollten ihn loswerden. Und natürlich gehörte Hitler nicht zu ihrer gesellschaftlichen Schicht. Die Militärs waren meist Landadlige aus Ostpreußen, die sich untereinander kannten, vor dem Krieg alle in gesellschaftlich angesehenen Regimentern gedient hatten und durchweg in der Vergangenheit lebten. Sie fanden Hitler und seine lauten NSDAP-Leute schrecklich. So schadeten sie ihm, wann immer sie konnten und maulten in ihren Offiziersmessen und bei ihren Jagdtreffen. Keiner würde je zugeben, daß Hitler den radikalen politischen Bewegungen in Deutschland das Rückgrat gebrochen hatte oder daß er das wirtschaftliche Los der arbeitenden Bevölkerung verbessert hatte. Ihnen bedeutete das nichts. Und obwohl Hitler im Ersten Weltkrieg Frontsoldat war und das EK erhalten hatte, so hatten sie doch nichts als Verachtung für ihn übrig. So lange sie den Nutzen aus den politischen Programmen hatten z. B. Steigerung des Militärhaushaltes, so lange beschränkten sie sich auf das Maulen. Einige alte Männer in den höheren
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Offiziersrängen wie Halder und Beck versuchten, sich bei diesen Programmen einzumischen, aber immer nur im Hintergrund. Und viele von ihnen hatten während der Weimarer Zeit in Sowjetrußland gelebt und angefangen, den russischen Stil zu mögen. Eine unglückliche Lage. Als Hitler 1933 an die Macht kam, wurden die Polen sehr wütend, weil Pilsudski* erkennen konnte, daß ein starkes Deutschland auf der einen und ein starkes Rußland auf der anderen Seite für Polen Schwierigkeiten bedeuten konnte. Daher plante er, gegen Deutschland vorzugehen, so lange die Reichswehr noch verhältnismäßig schwach war, und er hoffte, Hitler damit aus dem Amt zu treiben. Ich weiß nicht, ob die Polen wissen, wen sie mehr hassen: uns oder die Russen. Daher begannen die Polen Anfang 1933, meine ich, entlang des Korridors und längs der Grenze zu Ostpreußen Truppen zu massieren. Es gab keine Möglichkeit, sie zu schlagen, und daher mußte Hitler auf Zeit spielen.** Die Polen wollten, daß Hitler die Beziehungen zu Rußland abbricht, den militärischen Beistandspakt mit den Russen auflöst und mit ihnen einen langfristigen militärischen Freundschafts- und Beistandspakt abschließt. Hitler wurde gezwungen, das zu machen. Aber ich weiß, daß er diese Episode nie vergaß und die Polen haben dafür später teuer bezahlt. Die höheren Wehrmachtsoffiziere
* Joszef Pilsudski (1867-1935), polnischer Marschall, politischer Führer und Staatsoberhaupt. 1920 kämpfte Pilsudski gegen die Rote Armee und besiegte sie.
** Es gibt eine Vielzahl veröffentlichten, aber verhältnismäßig unbekannten Materials über die polnischen Pläne. z. B. H. Roos: ›Die Präventivkriegspläne Pilsudskis von 1933‹ in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 3, (1955), S. 344-363; außerordentlich detailliert.
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waren ebenfalls auf Hitler wütend, weil er ihre freundschaftlichen Beziehungen mit den Russen unterbunden hatte. Sie konnten oder wollten nicht einsehen, daß die Sicherheit des Staates, ihres Staates wichtiger war als die Übungsmöglichkeiten in Rußland. Und diese Herrschaften hatten nun einen weiteren Grund, Hitler zu hassen. Diese Leute hätten glänzende Stabsoffiziere sein können, aber sie dachten immer nur in militärischen, rein militärischen Denkmustern und beachteten sonst überhaupt nichts. Viele dieser Offiziere schlössen sich der Verschwörung an, als der Krieg begann, und sie arbeiteten dagegen. Sie waren zufrieden, untätig zu sein, so lange Hitler ihnen Marschallsstäbe und hohe Auszeichnungen verlieh. Aber schließlich nutzte sich das ab. Wie ich schon sagte: Viele der älteren hochrangigen Offiziere sabotierten Hitlers Pläne. Obwohl ich kein Fachmann in Militärfragen bin, muß ich hier doch sagen, daß Hitler in militärischen Fragen häufiger recht hatte als sie. Er pflegte einen Befehl zu erteilen. Und da ein General sich durch die Person Hitlers beleidigt fühlte, pflegte dieser Offizier den Befehl nicht direkt auszuführen. Geschah ein Unglück, dann pflegten der betreffende Offizier und seine Freunde alles auf Hitler zu schieben. Und sie pflegten ihn sehr oft anzulügen. Das war nie ein guter Gedanke. Dies ging schließlich so weit, daß Hitler von all seinen Besprechungen durch Stenographen Aufzeichnungen machen lassen mußte. Er konnte seinen Militärs einfach nicht trauen. Ich hörte einen höheren Offizier einmal sagen: Dies ist Hitlers Krieg. Wenn wir ihn verlieren, dann ist es seine Schuld. So etwas während eines wichtigen Krieges gegen tödliche Gegner, die nur dein eigenes Land zerstören wollen, zu hören, ist schon etwas. Das muß ich sagen. Viele dieser Offiziere waren in die Verschwörung verwickelt und viele wollten zusam-
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men mit den Russen gegen den Westen gehen. Bei Verhören von einigen dieser Leute war ich erschüttert herauszufinden, wie wenig sie von Stalins verbrecherischen Methoden wußten. Und sie wollten offensichtlich nicht glauben, daß nach der Beseitigung Hitlers Stalin sie sofort vernichten würde.
F: Auf welcher Ebene befanden sich die prorussischen Verschwörer?
M: Ganz oben.»
F: Können Sie besondere Namen nennen?
M: Sicherlich. Stauffenberg selbst war sehr prorussisch genauso wie der General der Kavallerie von Köstring, um nur einige zu nennen. Schulenburg war Botschafter in Moskau; von Köstring war dort Militärattache und zudem ist er in Moskau geboren. Dann war da einer Ihrer guten Freunde, Gisevius, den wir als sowjetischen Agenten enttarnten. Es gab aktive Gruppen im Außenministerium und selbst in der SS gab es einige, die eine russische Lösung unterstützten.
F: In der SS?
M: Ja, in der Germanischen SS, jener Abteilung, die für die germanischen Freiwilligen in der Waffen-SS zuständig war. Ich persönlich war der Auffassung, daß General Berger Verbindungen zu den Kommunisten pflegte, konnte ihm aber nichts nachweisen. Himmler wollte nichts Schlechtes über Berger hören und wurde so wütend, daß ich vorübergehend gezwungen war, seine Verfolgung aufzugeben. Ich habe den Leuten der Germanischen Abteilung nie getraut. Es gab zu viele Verbindungen dieser Mischlinge mit bekannten Kommunisten und slawischen Gruppen.
F: Haben Sie diesen Argwohn Hitler mitgeteilt?
M: Sicherlich. Rechtzeitig.
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F: Um wieder etwas zum zuvor Gesagten zurückzukehren. Stauffenberg war der Mann, der die Bombe legte, nicht wahr?
M: Ja. Er war der eigentliche Kopf und stand auf jeden Fall mit den Sowjets in Verbindung.
F: Wie kam es zu seinen Verbindungen mit den Russen?
M: Er war über das OKW mit der Aufstellung der Hilf-struppen aus den Ostvölkern befaßt und kam in Verbindung mit General Köstring.* Dieser Mann hatte auf jeden Fall Verbindungen zu den Sowjets, aber es war zur damaligen Zeit nicht bekannt. Die Wehrmacht schützte ihre Leute sehr. Erst nach dem Schock des Bombenattentates und meine eigenen strengen Untersuchungen brachten wir die Verbindungen zwischen der Wehrmacht und den Sowjets schließlich ans Tageslicht. Hitler sagte mir, er sei keineswegs überrascht. Die Seydlitzschen Verbindungen dürfen nicht außer acht gelassen werden...
F: Seydlitz? Das Nationalkomitee Freies Deutschland?**
M: Genau der. Es gab, wie Sie wissen, zwischen dieser Gruppe, die sicherlich eine Stelle des russischen Geheim-
* Ernst August Köstring, General der Kavallerie, geb. am 20. Juni 1876 in Moskau, gestorben 1953. Deutscher Militärattache in Moskau. Von 1941 bis 1945 bei der sog. Ostarmee, einer Frciwilligentruppe, die aus einer großen Anzahl antisowjetischer russischer Kriegsgefangener bestand.
** Walter von Seydlitz-Kurzbach, General der Artillerie. In Stalingrad von den Sowjets gefangen genommen, arbeitete er für diese, führte das Nationalkomitee Freies Deutschland und stand mit den sowjetischen Sympathisanten in der Deutschen Wehrmacht in Verbindung. Er kehrte 1955 nach Deutschland zurück und wurde von den meisten früheren Militärs gemieden.
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dienstes war, Verbindungen zu den Dissidentengruppen im Kreis der höheren Wehrmachtsoffiziere. Diese Leute interessieren sich mehr für die Ahnen eines Mannes als für seine politischen Überzeugungen. Sie kannten nur den General des Alten Fritz und nicht den modernen Verräter.* Mit so was mußten wir uns rumschlagen, glauben Sie mir. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es gab viele tapfere und loyale Offiziere; in der Tat waren dies die meisten. Aber viele, vor allem hochrangige Generale, meistens Adlige, hatten prorussische Gefühle oder sabotierten Hitler aus Standesdünkel. Auf der einen oder anderen Ebene hatten sie bei der Verschwörung die Finger im Spiel. Wenn sie selbst nicht direkt beteiligt waren, versuchten sie, ihre schuldigen Freunde vor Entdeckung zu schützen.
Letzendlich haben wir die meisten gefunden.
Obwohl es nichts mit dem 20. Juli-Attentat zu tun hat, möchte ich Ihnen an dieser Stelle gerne einiges über St-auffenberg sagen. Es besteht die Gefahr, daß man versucht, aus ihm eine Art Held oder Anführer der sog. Widerstandsbewegung gegen Hitler zu machen. Stauffen-berg war nicht der Anführer von etwas, sondern von einer kleinen Gruppe junger Männer und ihrer älteren Freunde. Er geriet in die Attentatssache über einen Onkel und einige Freunde, aber sein Hintergrund ist voller unschöner Tatsachen, Wenn ich fortfahren soll, sagen Sie es bitte. Aber wenn Ihre Leute das nicht interessiert, werde ich schweigen.
* Der Vorfahre von Seydlitz-Kurzbach war unter dem großen preußischen König ein herausragender Kavalleriegencral.
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F: Wohin würde das führen? Stauffenberg ist in Deutschland eine Art historisches Denkmal geworden, aber wir benutzen seinen Namen für nichts. Hat dies irgendetwas mit den sowjetischen Verbindungen zu tun?
M: In etwa.
F: Dann sollten Sie vielleicht fortfahren.
M: Ich meine, daß es wichtig ist, sich die Persönlichkeit Stauffenbergs anzusehen. Jeder gute Polizist liebt es, so viel als möglich über einen Verdächtigen zu wissen. Es gab einen Mann namens Stefan George in Deutschland, ein Deutscher, der 1933 starb. Er predigte das Elitäre und die russische Überlegenheit in einem Kreis junger Männer, die immer um ihn herum waren. Er war eine Art Oscar-Wilde-Typ.
F: In anderen Worten: George war schwul.
M: Natürlich. Ich erfuhr davon nach der 20.Juli-Sache von einem Münchener Polizeikameraden, der Zugang zu einem langen Bericht über George aus früherer Zeit hatte. George hatte einen hübschen Jungen in München verführt, und dessen Familie fand abstoßende Liebesbriefe, die George für diesen Jungen geschrieben hatte. Man beklagte sich, und es folgte eine Untersuchung. Die Namen der Stauffenberg-Brüder tauchten mehrmals auf. George war in Heidelberg und hatte eine Art religiösen Kult mit allerlei geheimnisvollen Zeremonien mit jungen Männern, die Nackttänze usw. aufführten. Ein empörendes Verhalten.
F: Und Stauffenberg war in dieser Gruppe?
M: Ja. Er und seine Brüder. Stauffenberg sah recht gut aus, sofern Sie ihn auf Bildern gesehen haben. Er war groß und schlank mit schönen Gesichtszügen, so daß ich annehme, daß George zu ihm hingezogen wurde. Stauffenberg selbst schloß sich dieser Kultgruppe an, als er 17 Jahre war.
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George floh nach der Machtergreifung aus Deutschland, und die Stauffenbergs und andere folgten ihm in die Schweiz nach. George starb noch im gleichen Jahr.
F: Aber war dies der ständige Lebensstil von Stauffen-berg oder nur etwas, das er als junger Mann ausprobierte?
M: Ich konnte nie etwas 100%ig beweisen, aber viele Offiziere in Stauffenbergs Stab glaubten, daß er eine Fummeltante war. Oder homosexuell, um formaler zu reden. Er umgab sich immer mit jungen hübschen Offizieren, denen er griechische Kultur predigte. Er sprach vom schönen Körper und der vollkommenen Seele oder wie er es auch immer nannte. Viele normale, ältere Offiziere fanden ihn laut und widerlich, sehr schmutzig, was seine persönliche Hygenie anbelangte. Sie hatten etwas gegen seinen männlichen Harem, mit dem er in den Offiziersmessen herumzog.
Dieser George sprach auch von einem geheimen Deutschland, das von seinen besonderen jungen Freunden geführt werden sollte, nachdem er sie zu seinem perversen Leben bekehrt hatte. Ich habe viele Unterlagen, die beweisen, daß das sogenannte geheime Deutschland in Wirklichkeit nur eine Gruppe Homosexueller mit Interesse an jungen Männern war. Und ich glaube sehr, daß einige der Verschwörer, die Verbündete Stauffenbergs waren, daran interessiert gewesen wären, die Gesetze gegen Schwule genau so streng zu handhaben, wie sie ein Interesse hatten, Hitler los zu werden. Die ganze Sache stank nach Perversem, wie der Redl-Fall.*
* Karl Redl war Hauptmann im Generalstab der k.u.k-Armee des Ersten Weltkrieges. Er war homosexuell und wurde von der russischen Geheimpolizei ausfindig gemacht. Redl arbeite für sie und verriet viele wichtige Geheimnisse, bis er von der österreichischen Gegenspionage gefaßt wurde und Selbstmord beging.
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F: Sie haben über all das Unterlagen?
M: Natürlich. Ich habe noch immer einen Stapel Unterlagen über diese Gestalten. Ich berichtete darüber Hitler, der entsetzt war und sagte, er wolle darüber nichts mehr hören. Er sagte zu mir: »Erst die Sache mit Röhm und seiner Bande von Schwulen und nun dies. Behalten Sie im Augenblick alles für sich. Später können wir es an die Öffentlichkeit bringen und es dazu zu benutzen, die Degenerierten aus ihren Stellen zu jagen. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür.«
F: Könnten wir Ablichtungen von diesen Unterlagen bekommen?
M: Sicher. Vielleicht würden Sie herausfinden, wer noch so alles in dieser Gruppe war, so daß Sie sich deren Dienste bedienen könnten. Ich meine natürlich keine geschlechtlichen Dienste, aber eine solche Kenntnis kann eine bessere Zusammenarbeit sichern.
F: Ich würde sagen, daß wir an mehr Information darüber interessiert sind. Ich versichere Ihnen, daß wir kein Interesse an Erpressung haben.
M: Daran habe ich nicht im geringsten gedacht. Das versichere ich Ihnen.
F: Glauben Sie, daß die Sowjets davon Kenntnis haben?
M: Sie haben dafür eine Nase. Es ist ein billiger Weg an kostenlose Informationen ranzukommen. Und die Sowjets verstehen sich auf sexuelle Erpressung. Ich weiß, daß sie davon Kenntnis hatten, aber was genau sie damit gemacht haben, entzieht sich meiner derzeitigen Kenntnis.
F: Würden... wenn die Sowjets von Stauffenbergs Tätigkeiten wußten, hätten sie gewußt ... oder würden sie von überlebenden Personen wissen, die Verbindungen zu dieser Gruppe hatten? Die Gruppe »Geheimes Deutschland«?
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M: Wahrscheinlich. Wenn sie diese Leute für sich arbeiten ließen, könnten Sie sie umdrehen. Da wir gerade bei diesem Thema sind, sollte ich Ihnen sagen, daß es eine Menge sogenannter Helden aus dieser Zeit gibt, die sehr zusammenarbeitswillig waren und mich mit jeder Art von Nachricht, die ich benötigte, versorgten, nebenbei bemerkt: ohne jeden Zwang, und mir halfen, die anderen in den verschiedenen Gruppen aufzuspüren. Vielleicht können wir uns über jemanden unterhalten, dessen Name Sie wahrscheinlich kennen. Sind Sie an dieser Stelle an etwas Geschichte interessiert?
F: Warum nicht?
M: Vor kurzem las ich ein recht aufschlußreiches Buch. Von einem gewissen von Schlabrendorff* ... Ah, ich stelle fest, Sie wissen, wer dieser Herr ist.
F: Ich habe kein Wort zu Ihnen gesagt.
M: Nein, aber Ihr Gesicht. Dieser von Schlabrendorff schrieb ein Buch, das hier in der Schweiz veröffentlicht worden ist. Haben Sie es zufällig gelesen?
F: Vielleicht habe ich einmal reingeschaut. Der Titel war ›Offiziere gegen Hitler‹?
M: Ja. Ich frage mich indes, wer es geschrieben hat. Auf keinen Fall hat es von Schlabrendorff geschrieben.
F: Wie kommen Sie zu dieser Meinung?
M: Ich habe ihn verhört, und er gehörte zu jenen, die mir bei meiner Arbeit sehr geholfen haben. Natürlich liefert nun er oder sein Schreiber eine tapfere Widerstandsschau gegenüber der Gestapo. Tapferer Widerstand! Ich
* Fabian von Schlabrendorff war Anwalt und Reserveoffizier; er wurde nach dem 20. Juli verhaftet.
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kann Ihnen sagen, daß dieser Mensch so kooperationsbereit war, wie er nur konnte. Natürlich nicht von Anfang an...
F: Wurde er gefoltert?
M: Nein. Was für ein Unsinn. Dieser Mann war Oberleutnant und mit Sprengstoff befaßt, der gegen Hitler eingesetzt werden sollte. Ich frage mich, woher dieser Sprengstoff kam? Von den Briten? Er war sicherlich britischer Herkunft. Von der Abwehr? Oder vielleicht aus der Schweiz? Vielleicht hatte Ihr Herr Dulles* in Bern seine Hand im Spiel. Ich hatte ein wachsames Auge für ihn und verfügte über zwei Leute innerhalb seiner Organisation, so daß ich mit gewisser Sachkenntnis über seine Taten sprechen kann. Ich glaube, daß einer seiner wichtigsten Helfer, ein gewisser Gero von Gävernitz**, den Sprengstoff an von Schlabrendorff weitergab. Natürlich war das möglich, weil von Schlabrendorff für Ihre Leute gearbeitet hat. Er war in der Tat sehr zusammenarbeitswillig. Aufgrund seiner Aussagen hängten wir fünf Leute, und obwohl er an der Verschwörung beteiligt war, ließ ich ihn am Leben. Der Krieg war schließlich bald vorbei, und
* Allen Dulles war der Chef des OSS in der Schweiz. Seine Berichte über die Zustände innerhalb Deutschlands während des Krieges zeichnen sich durch große Ungenauigkeit aus. Später wurde er der Chef des CIA.
** Gero von Schulze-Gävernitz war ein Spitzenmann von Allen Dulles. Er war der Sohn von Gcrhart von Schulze-Gävernitz, einem ehemaligen Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und Professor für britische Wirtschaftsgeschichte, der aus Deutschland geflohen war, weil seine Frau Jüdin war. Sein Sohn promovierte in den USA in Wirtschaftswissenschaften.
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er war amerikanischer Spion, nicht wahr? Für Sie vielleicht ein Held, für mich jedoch ein Verräter. Im allgemein bestand ich darauf, daß solche Verräter gehängt wurden. Aber ein OSS-Mann könnte mir später von gewissem Nutzen sein. Die meisten OSS-Leute, die ich kennenlernte, waren idiotische Kommunisten. Ich dachte immer, die OSS-Leute wollten Hitler entführen und ihn benutzen. Oder eine andere Gruppe wollte ihn einfach in die Luft jagen. Wir haben da die Russen, welche die Stauffenberg-Gruppe kontrollierten, die Amerikaner, die im Kreisauer Kreis mitmischen, und ich frage mich, wen die Briten an der Angel hatten. Sie hatten einen unbedeutenden schwulen Diplomaten, einige Türken, eine Menge italienischer Monarchisten und pomadisierte Schwule, einige englandfreundliche Amerikaner. Ich bin mir sicher, daß Sie sich sehr freuen, wenn ich Ihnen diese Namen als Geschenk überreiche.
F: Herr von Gävernitz hat das Manuskript veröffentlicht...
M: Herr von Gävernitz schrieb also das Manuskript. Es war voller Fehler. Eine Bombe in Hitlers Flugzeug einzubauen. Was für ein Unsinn.
F: Gab es das nicht?
M: Nein, das gab es nicht. Die Geschichte lautet wie folgt: Von Schlabrendorff, der unerschütterliche Held, übergab eine Zeitzünderbombe an einen Generalstabsoffizier namens Brandt, er wurde später durch Stauffenbergs richtige Bombe zerfetzt, der sie in Hitlers Condor-maschine mitnahm. Diese Bombe versagte. Sofort flog von Schlabrendorff in einer Sondermaschine nach Rastenburg und nahm diese an sich. So lautet die Geschichte, nicht wahr?
F: So weit ich mich erinnere: Ja!
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M: Brandt war sicherlich im Wehrmachtshauptquartier, als Hitler da war. Aber er flog mit der zweiten Maschine, nicht mit Hitlers Maschine. Und selbst wenn diese erfundene Bombe hochgegangen wäre, hätte sie nichts gebracht. Hätte mir später das Hängen von einigen Stabsoffizieren erspart. Und wie steht es mit der Bombe bei der Ausstellung?
F: Davon weiß ich nichts.
M: Sie haben nie von dem tapferen Hauptmann gehört, der eine Bombe in der Tasche hatte und plante, bei einer Ausstellung auf Hitler loszugehen und ihn in die Luft zu jagen?
F: Es gab in diesem Bereich so viele Geschichten, so daß man von mir vernünftigerweise nicht erwarten kann, daß ich mich an alle erinnere.
M: Der Gersdorff-Mythos.* Die Bombe in seiner Tasche. Es gab auch bei diesem keine Bomben. Gersdorff war ein von sich eingenommener Mann, der nach dem Krieg auf sich aufmerksam machte, indem er behauptete, er habe versucht, Hitler mit einer weiteren erfundenen Bombe umzubringen. Ich weiß, wer Gersdorff ist. Ich versichere Ihnen, er hat ein schlechtes Gewissen. Daher die Geschichte vom gescheiterten Bombenattentat. Vielleicht möchte jemand wissen, warum er sich schuldig fühlt? Wir mußten Schlabrendorff decken, damit es so aussah, als bekomme er nur eine Gefängnisstrafe, genauso wie sein lieber Freund Gerstenmaier. Nun posieren die beiden wie zwei alte Huren in einem Fenster und behaupten, sie seien
* Rudolf-Christoph von Gersdorff war Oberst im Generalstab und soll ein Attentat auf Hitler versucht haben.
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Helden. Ich meine, letzt endlich ist was Wahres dran: Sie verkörpern in der Tat den wahren Geist des Widerstandes. Dem muß ich zustimmen. Und sagen Sie Ihrem Gävernitz, er möchte das nächste Mal bei seinen Märchen besser nachforschen. Aber meine Vorausplanung, indem ich Schlabrendorff am Leben ließ, als ich ihn hätte hängen lassen sollen, hat uns zusammengeführt. Wer hätte an so etwas gedacht?
F: Sie wahrscheinlich?
M: Ich bin nur ein einfacher bayerischer Polizist, der versuchte, sein Bestes zu geben. Ich bin keineswegs ein raffinierter Mensch. Ich las in irgendeinem Buch, ich sei ein brutaler und dummer Nazi-Schläger. Also muß das wahr sein. Bücher lügen nie, nicht wahr?
F: Herr General, ich wünsche mir, daß Sie diese Gespräche etwas ernster nehmen.
M: Wenn Sie spaßige Geschichten einbringen, dann muß ich eben lachen.
F: Um offen zu sein: Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie über etwas lachen.
M: Wir Deutsche haben einen großen Sinn für Humor. Wenn ich sehen würde, wie Stalin in einer Kläranlage ertrinkt, dann würde ich darüber lachen. Das versichere ich Ihnen.
F: Ich meine, wir sollten zum Thema Stauffenberg zurückkehren, nicht wahr?
M: Noch mehr Schmutz und das auch noch vor dem Mittagessen. Gut denn. Fahren wir fort. Was wollen Sie noch über die Gruppe der glücklichen Jungen des geheimen Deutschland wissen?
F: Hat die Stauffenberg-Gruppe mit den Sowjets zusammen gearbeitet oder war sie ihnen gegenüber nur freundlich gesonnen? Stalin hatte Angst..., Sie wissen, das Atten-
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tat kam nach der Invasion Frankreichs durch die Westalliierten.... Stalin hatte Angst, daß der Westen die Amerikaner und Briten vor den Russen ins das Industriegebiet an der Ruhr vorstoßen würden. Das Ruhrgebiet war für Stalin der große Preis. Er mußte das Ruhrgebiet mit seinem industriellen Potential zuerst erreichen. Daher kam es zu einem Handel: Beseitigt Hitler und ersetzt ihn durch jemanden, mit dem Stalin verhandeln und die sofortige Kontrolle über die Industriegebiete in Schlesien und an der Ruhr erlangen kann. Sie machten viele Versprechungen, um mit ihrem Plan voranzukommen. Stauffenberg, Beck und die anderen konnten als Totengräber-Regierung an der Macht bleiben, bis eine neue demokratisch gewählte sozialistische Regierung errichtet werden könnte. Ein Sozialismus russischer Art natürlich. Ein Genickschuß oder ab in die Lager nach Sibirien. Man sprach sogar darüber, Hitler durch Himmler zu ersetzen! Das wäre sicherlich weder für die Militärs noch für irgendjemanden anderen annehmbar gewesen. Aber man hatte Himmler mehrmals angesprochen, Hitlers Stelle einzunehmen, und schließlich fand er an diesem Gedanken Gefallen. Himmler glaubte an seine eigene Bedeutung und an die Bedeutung der SS und er wollte an der Macht bleiben. Er sagte mir einmal, er fühle, daß er allein in der Lage ist, mit dem Westen und mit den Russen zu verhandeln. Ein sehr närrischer Mensch.
F: Haben Sie Himmlers Verwicklung in die Verschwörung Hitler gegenüber erwähnt?
M: Himmler hatte das schon getan, um mich auszuschalten. Man mußte sehr vorsichtig sein. Ich weiß, daß Hitler Himmler aus persönlichen Gründen nicht mochte. Und ich meine, er hätte ihn bei passender Gelegenheit ersetzt. Hitler mochte Könner, und Himmler war zu sehr der Typ
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eines Schulmeisters, um Hitler zu gefallen. Und neben der Polizei mochte Hitler die Lehrer genauso wenig.
F: Hätte Hitler Ihnen das Amt des Reichsführers SS übertragen können?
M: Ich glaube nein. Ich hatte nicht die Unterstützung der altgedienten SS-Offiziere. Ich meine, und Hitler erwähnte dies einige Male, daß er mir die Kontrolle über einen zusammengefaßten Nachrichtendienst hätte übertragen können. Ich wußte, daß er mit meiner Arbeit in der Sache 20. Juli sehr zufrieden war. Er gab mir ein Bild mit Unterschrift und eine hohe Auszeichnung.
F: Um welche Auszeichnung handelte es sich?
M: Das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern im Okt. 1944. Ein Grund für diese Auszeichnung war meine Arbeit im Bereich der Auswertung der feindlichen Rundfunksender und der weitere Grund war der Erfolg der Gestapo beim Auspüren der Verschwörer des 20. Juli.
F: In der Akte über Sie sehe ich, daß Sie 1940 das Eiserne Kreuz erhielten? Waren Sie an der Front?
M: Nein. Diese Auszeichnung erhielt ich für meine Arbeit im August und September 1939 im Zusammenhang mit der Gleiwitz-Affäre. Heydrich hatte einen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz vorgetäuscht, um einen Vorwand für den Angriff auf Polen zu liefern. Das Datum war geändert worden, weil Hitler versuchte, bis zur letzten Minute zu verhandeln. Aber eine Gruppe erhielt den Gegenbefehl nicht und begann auf die deutsche Zollstation zu schießen. Ich mußte mich selbst einschalten und das Schießen beenden. Aber es handelte sich nicht um das Eiserne Kreuz. Es war eine Erneuerung meiner Auszeichnungen, die ich im Ersten Weltkrieg erhielt.
F: Wir können dies zu einem anderen Zeitpunkt erörtern. Ich bin nach wie vor am 20. Juli interessiert. Hat
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Hitler gewußt, daß die Russsen in der Verschwörung drin-hingen und wie hat er reagiert?
M: Er wußte es und er schien nicht überrascht. Zuerst glaubte er aufgrund seiner eigenen Beobachtungen, die Briten ständen hinter der ganzen Sache. Später kam er davon ab, als ich ihm Beweise lieferte. Hitler hatte immer das Gefühl, daß die Briten ihn ermorden wollten. Stauffenberg hatte über seine Frau britische Verwandte. Die richtigen Bomben, wie die Zeitzünder, waren britischer Herkunft. Wir stellten aber später fest, daß sie aus den Lagerbeständen der Abwehr kamen, aber in Sonderheit nicht gedacht waren, sie gegen Hitler zu benutzen.
F: Nun, Sie haben das OSS in dieser Sache angeklagt...
M: Ein kleiner Scherz.
F: Wie kam die Abwehr an britischen Sprengstoff und britische Zeitzünder?
M: Die Abwehr kontrollierte das gesamte SOE-Netz* in Holland, und die Briten warfen mittels Fallschirmen Tonnen von Waffen und Sabotagematerial in die Hände der Abwehr. Die Briten wußten nicht, daß man ihr Netz entdeckt hatte. Alles kam von dort. Die ersten Berichte der Untersuchungskommission wiesen auf britischen Sprengstoff hin, und Hitler selbst berichtete mir über seine Erfahrungen mit britischem Sprengstoff im Krieg, die Farbe der Explosionsflamme und der Geruch des Sprengstoffes.
* SOE stand für ›Special Operations Executives (Abteilung für Sonderaktionen), einer Abteilung des britischen Geheimdienstes, die von Churchill für Ermordungen, Sabotagehandlungen und andere Geheimaktionen gegründet wurde.
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F: Gibt es irgendeinen Beweis für die sowjetischen Verbindungen der Stauffenberg-Gruppe?
M: Sicherlich. Die Gestapo beschlagnahmte alle persönlichen Unterlagen Stauffenbergs gleich welchen Ursprungs. Als wir dann sein Quartier in Berlin durchsuchten..., ich meine seine Privatwohnung in Potsdam, entdeckten wir, daß Stauffenberg alles niedergeschrieben hatte. Nicht nur das. Wir fanden das Haus vollgestopft mit ungesetzlichen Schwarzmarktwaren: Wein, Lebensmittel, Kleidung und weitere Luxusartikel. Stauffenberg war ein sehr gesetzestreuer und patriotischer Mann. Sie haben mich zuvor nach abnormen Verhalten gefragt? Mehrere Alben mit Bildern nackter junger Italiener von diesem ruchlosen von Gloeden. Diese befinden sich nicht in meinen Unterlagen. Wir gingen allen Spuren nach, die wir hatten, und die Verbindung zu den Sowjets kam fast sofort zum Vorschein. Wir vermißten Köstring, obwohl er schon verhört worden war. Aber alle anderen bekamen wir. Hitler ordnete an, daß all diese Dokumente streng geheim und in meiner Hand bleiben sollten, weil er nicht wollte, daß jemand wußte, was er wußte und was er nicht wußte. Ich kann Ihnen versichern, daß es nach dieser Zeit eine Menge aufgeschreckter Leute gab.
F: Was geschah mit diesen Dokumenten?
M: Die Stauffenberg-Unterlagen?
F: Ja.
M: Ich habe sie aufgehoben. Und um gleich Ihre nicht gestellte Frage zu beantworten: Ich habe diese Unterlagen noch, mit Ausnahme der Bilder von den kleinen Jungs.
F: Ich glaube nicht, daß wir daran interessiert sind.
M: Ich hoffe nicht. Nun zu den Briten...
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F: Wollen wir bitte nicht der Reihe nach vorgehen? Welche anderen Persönlichkeiten außer Stauffenberg haben für die Sowjets gearbeitet?
M: Viele sog. Intellektuelle hatten Sympathien für die Sowjets wie die Mitglieder der ›Roten Kapelle‹; dieser Kreis wurde früher ausgehoben und ist kennzeichnend. Die Russen stehen im Ruf, einen guten Geheimdienst zu haben. Aber was machen sie? Sie stoßen in verschiedenen Ländern auf prokommunistische Gruppen von Intellektuellen und erhalten von diesen kaputten Figuren kostenlos Nachrichten. Die Russen hassen es, für irgendetwas zu zahlen. Studenten, Schriftsteller, Künstler, Professoren usw. sind glücklich, ihnen Staatsgeheimnisse zu verraten, um der sozialistischen Sache zu helfen. Aber Persönlichkeiten? Nein. Im besten Fall nicht sehr viele und dann meistens geheime Förderer Stalins. Sie hatten nicht den richtigen Mut zum Handeln. In der Nacht herumschnüffeln und schlecht geschriebene Flugblätter in Briefkästen werfen oder mit Kreide Losungen gegen die Regierung auf die Wände zu schreiben, das war ihr Tun. Ich sagte, sie waren ein bedauernswerter Haufen. Und das waren sie in der Tat. Glauben Sie es mir.
F: Eine der wichtigeren Fragen auf meiner Liste ist die Frage nach den Tagebüchern von Admiral Canaris. Wissen Sie etwas davon?
M: Ja. Nach dem 20. Juli wurde Canaris nicht angeklagt, obwohl eine Anzahl seiner engsten Mitarbeiter am Verrat beteiligt war. Himmler schützte ihn fast bis zum Schluß. Dann fand im April 1945 ein Offizier zufällig die Tagebücher im Hauptquartier der Wehrmacht; sie lagen in einem Panzerschrank. Sofort übergab man die Tagebücher an Rattenhuber...
F: Rattenhuber? Der Sicherheitsoffizier?
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M: Rattenhuber war der Chef von Hitlers persönlicher Sicherheitstruppe aus dem RSD*. Er war von Hause aus Polizist, ein Bayer aus München. Er las die Tagebücher durch und gab sie sofort an mich weiter.
F: Nicht an Kaltenbrunner?
M: Nein, nicht direkt. Aufgrund eines Befehls Hitlers kam all dies zuerst auf meinen Tisch. Ich las die Tagebücher durch und ließ von allen Seiten Aufnahmen machen. Ich zeigte Hitler dann die Tagebücher...
F: Die Originale oder die Fotos?
M: Die Originale waren stets für Hitler. Er las sie aufmerksam durch und wies mich an, sie sorgfältig zu verwahren. Kaltenbrunner erhielt die Fotos von ausgesuchten Seiten. Er gab sie dann Hitler.
F: Die Originale? Ich meine, was geschah mit den Originalen?
M: Ich bewahrte sie sicher auf.
F: Sind sie noch immer sicher aufbewahrt?
M: Gut genug.
F: Was stand in den Tagebüchern?
M: Die Idioten haben alles aufgeschrieben. Mein Problem im Umgang mit den Verrätern bestand nicht darin,
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* RSD-Reichssicherheitsdienst - Eine Gruppe von Berufspolizisten, die offiziell zum Stab Himmlers gehörte, in Wirklichkeit aber völlig unabhängig war. Sie waren für die persönliche Sicherheit Hitlers verantwortlich und begleiteten ihn überall hin. Sie trugen SS-Uniformen mit Rangabzeichen und unterstanden nur Hitler und SS-Brigadeführer Hans Rattenhuber, dem Chef des RSD. Rattenhuber arbeitete in Zeiten, wenn Hitler unterwegs war oder auf Großveranstaltungen sprach, sehr eng mit der Gestapo zusammen. Wie Müller, so war auch Rattenhuber ein Bayer und blieb bis zum Schluß bei Hitler.
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wichtige Papiere zu finden, sondern zu entscheiden, welche wichtigen Papiere wirklich wichtig waren. Jedermann, angefangen bei Stauffenberg, hatte Tagebücher, machte Aufzeichnungen und schrieb jede Art von rechtfertigenden Dokumenten, die man in Schreibtischen, in Tresoren in den Arbeitszimmern oder an anderen leicht auffindbaren Plätzen aufbewahrte. Canaris war nicht anders, obwohl er es als intelligenter Abwehrchef hätte besser wissen sollen.
F: Aber der eigentliche Inhalt dieser Tagebücher...?
M: Wie bei den anderen. Sich selbst und seine Handlungen zu rechtfertigen. Es war eine Auflistung von Verbindungen sowohl mit dem Westen als auch mit dem Osten über verschiedene hochrangige Regierungsbeamte, Kirchenleute und so weiter. Nebenbei bemerkt: Diese Kirchenleute waren am schlimmsten. Obwohl ich zur Kirche gehe, stimme ich Bormann zu, wenn er von der blökenden Hammelherde Gottes spricht. Diese moralischen Schädlinge behaupteten alle, Gott habe gewollt, daß man Hitler töte, und daß alles, was sie taten, gerechtfertig sei, weil sie einen Kragen trugen. Und sie waren die ersten, die uns die Namen ihrer Freunde, die Namen der Freunde der Freunde und sonst jedem, an den sie denken konnten, gaben. Ich zog es persönlich vor, diese Gestalten nicht zu verhören, sofern ich es vermeiden konnte. Ich verhörte mehrmals Canaris und er war in der Tat ein richtiger Grieche. Für alles hatte er eine Antwort. Keine davon war richtig. Er hätte irgendwo Teppiche verkaufen und sich aus dem militärischen Bereich heraushalten sollen. Seine Tagebücher waren letzten Endes sein Todesurteil. Es gab einen Verschwörungsplan, Hitler mit Hilfe der Division Brandenburg festzunehmen, der bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitet worden war. Natürlich haben sie nicht mit
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dem kommandierenden Offizier oder irgendjemand anderem aus seinem Stab gesprochen. Es war später ein großer Schock für sie, als der kommandierende Offizier ihren Plan voll und ganz ablehnte und sie auf Befragen nicht unterstützen wollte. Sie müssen das verstehen: Diese Idioten wurden verhaftet oder in Polizeigewahrsam genommen. Und sofort blabberten sie gegenüber der Gestapo alles aus, was sie wußten. Ich mußte nie jemanden mißhandeln. Es war nicht erforderlich. Natürlich sprang ich mit dem einem grob um, mit dem anderen unterhielt ich mich freundlich und angenehm. Der Ton des Verhörs hängt von der Person ab, die man verhört. All diese Gestalten gaben mir jede Informationen, die ich brauchte, so schnell sie konnten. Und wenn ich nun Bücher über ihren heldenhaften Widerstand und die schrecklichen Folterungen lese, muß ich nur lachen. Eingesperrt zu sein, ist keine angenehme Lage, vor allem für einige weiche Bürokaten oder hochnäsige Generale. Und der psychologische Druck, den ich ausübte, war sehr stark, aber ich ließ nie jemanden schlagen.* Es ist nicht erforderlich, wenn die meisten von ihnen ganz von sich aus gestehen und so viele
* Am 12. Juni 1942 hatte Müller folgenden, von ihm unterschriebenen Befehl herausgegeben. Dieser Befehl befaßte sich mit den verschiedenen Graden des Verhörs im allgemeinen und dem verstärkten Verhör im besonderen:
l. Das verschärfte Verhör darf nur dann angewandt werden, wenn auf der Grundlage vorheriger Verhöre die Sicherheit gewonnen wurde, daß der Gefangene Auskunft über wichtige Tatsachen, Verbindungen oder Pläne, die dem Staat oder dem Gesetz schaden, geben kann, aber sich weigert, diese Kenntnisse mitzuteilen und diese nicht über Nachforschungen zu bekommen sind.
→
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Leute belasteten, wie sie konnten. Und viele der von ihnen Belasteten wußten kaum etwas. Ich glaube, wir ließen mehr frei, als wir weiterhin eingesperrt ließen. Natürlich konnte ich sehr hart zu jemandem sein, wenn er mich anlog und versuchte, andere hineinzuziehen. Die meisten wurden sowieso gehängt, aber offensichtlich wollten sie dabei Gesellschaft haben.
F: Wie viele wurden denn tatsächlich im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet? Man spricht von 4000 bis 5000 Personen...
M: Unsinn. Tausende waren im Gefängnis. Aber soweit mir bekannt ist, wurden tatsächlich nur 200 hingerichtet.
2. Unter diesen Umständen darf das verschärfte Verhör, die verstärkte Befragung nur angewandt werden gegenüber Kommunisten, Marxisten, Mitgliedern der Bibelforscher, Saboteuren, Terroristen, Mitgliedern der Widerstandsbewegung, feindlichen Agenten, die mit dem Fallschirm abgesprungen sind, Asozialen, Polen oder Russen, die sich weigern zu arbeiten, oder Landstreichern. In allen anderen Fällen ist zuvor grundsätzlich meine Genehmigung einzuholen.
3. Was verschärfte Verhör darf nicht angewandt werden, um eigene Geständnisse zu bekommen, noch ist es anzuwenden bei Personen, die vorübergehend der Justiz für weitere Nachforschungen überantwortet wurden. Erneut gilt: Ausnahmen bedürfen meiner vorherigen Genehmigung.
4. Den entsprechenden Umständen zufolge kann die Verschärfung wie folgt aussehen:
- einfachste Verpflegung (Brot und Wasser);
- hartes Bett;
- dunkle Zelle;
- wenig Schlaf;
- Erschöpfungsübungen,
aber auch das Ergebnis von Stockschlägen (im Falle von mehr als 20 Schlägen muß ein Arzt anwesend sein):
In: IMT, Bd. 27 (engl. Ausgabe), S. 326-327.
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Ich erinnere abschließend daran, daß mir Hitler bezüglich dieser Kreaturen einen Sonderbefehl gab; es war in Berlin, im April. Er sagte zu mir, er wolle, daß all diese Kreaturen sofort liquidiert werden, so daß, wenn Deutschland unter die Kontrolle der äußeren Feinde geriet, die inneren Feinde nicht aus ihren Löchern kriechen könnten, um die neue Regierung zu stellen. »Müller, wenn ich zu diesem Zeitpunkt jemandem trauen kann, dann spüre ich, daß Sie das sind. Wir waren einmal Feinde. Aber ich habe eingesehen, daß Sie in der Tat ein echter Fachmann sind, und als solchen fordere ich Sie auf, dafür zu sorgen, daß dies sofort erledigt wird.«
F: Was erwartete man von Ihnen, und taten sie es?
M: Sie mit oder ohne Gerichtsverhandlung zu beseitigen. Sie verstehen genau, was man von mir erwartete.
F: Mit anderen Worten: Sie alle umbringen lassen.
M: Nennen Sie es, wie Sie es wollen. Diese Leute waren des Hochverrates schuldig. Sie wollten zu ihrem Vorteil den Staat vernichten. Wie die Generale, von denen ich Ihnen erzählte, jene, die sagten, es ist Hitlers Krieg, und wenn wir ihn verlieren, dann ist es seine Schuld. Und es trifft zu, daß die meisten hofften, in einer Nachkriegsregierung bedeutende Leute zu werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum sie aus der Sicht des Kriminalisten dumme Tagebücher aufbewahrten, so daß sie später als Beweise für ihren Widerstand gegen Hitler dienen konnten. Sie können meine Handlungsweise bezeichnen, wie Sie wollen. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß ich alle Beweise gegen sie selbst überprüft habe und daß ich die meisten selbst verhört habe. Ich kenne daher ihren Charakter, ihre Beweggründe besser als jetzt jemand, der von außerhalb kommt. In Ausführung des Befehls von Hitler stellte ich eine Gruppe aus meinen Männern zusammen, auf die ich
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mich verlassen konnte und erteilte den entsprechenden Befehl. Ich persönlich befahl, die 20. Juli-Gefangenen sofort hinzurichten. Die Hauptverbrecher hatten schon gesühnt, aber die Canaris-Bande war noch übrig, und es gab auch noch einige im Gefängnis in Berlin, die auf ihren Prozeß oder ihr Urteil warteten. So weit ich vermochte, ließ ich Hitlers Befehl ausführen. Canaris und seine Bande wurden in ihrem Gefängnis gehängt, und die anderen wurden herausgeholt und erschossen, einige kurz bevor die Russen eintrafen, um sie zu retten. Ich muß Ihnen sehr deutlich sagen, daß es mir keine Schwierigkeiten bereitete, diesen Befehl auszuführen, und wenn ich heute etwas bereue, dann ist es dies, daß ich ein paar nicht erwischt habe.
MU 13-75-96: 18; S. 1-17, 19-26
Herangezogen wurden die Müller-Berichte für die Sonderkommision 20. Juli 1944. Einige wurden Kaltenbrunner übergeben und von ihm abgezeichnet, während der Großteil von Müller verfasst und von ihm abgezeichnet wurde. Einige dieser Dokumente sind in den National Archives (T-84, 19-22).
Kommentar
Trotz der ausführlichen Literatur, die über den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 auf Hitler existiert, gibt es über diesen Vorgang Wissensdefizite. Einiges geht vermutlich auf die Haltung der Verfasser zurück. Alle bekannten Berichte über den Widerstand gegen Hitler unterstreichen die positive Seite der Anti-Hitler-Bewegung. Und sollte es Hinweise geben, und die gibt es in der Tat, die dieser Sicht widersprechen, so wird dieser Gesichtspunkt sehr sorgfältig ausgespart oder geschönt.
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Müller führte eine sehr umfangreiche Untersuchung der ganzen Widerstandsbewegung durch, führte die meisten der sehr ausführlichen hartnäckigen Verhöre persönlich durch und schrieb Bände von Berichten in seiner trockenen Polizistensprache. Daß er die Verschwörer nicht mochte, wird beim Lesen in jeder sprachlichen Wendung deutlich. Aber die Tatsachen werden klar dargestellt. Unabhängig von Müllers eigenen Unterlagen liegt in Archiven beachtliches Beweismaterial vor, das jedem Forscher zugänglich ist, und das sich erheblich von der etablierten Geschichtsschreibung unterscheidet. Die Bewertung von Quellenmaterial erfolgt, wenn es um das Dritte Reich geht, häufig aus emotionalen Motiven. Belastendes wird als Beweis der eigenen These groß herausgestellt, während Entlastendes, wenn es etwa aus offiziellen Stellen des Dritten Reiches stammt, per se als »unhistorisch« abgelehnt wird.
Die Bestätigung menschlicher Vorurteile mag einigen Vergnügen bereiten; sie hat aber wenig mit historischen Forschung zu tun. Müller war stets ein korrekter Mensch. Er befaßte sich intensiv mit seinen Nachforschungen und war ein sehr fähiger Polizist. Die von ihm verfaßten Berichte gingen direkt zu Hitler. Müller war stets ein ehrgeiziger Mensch mit dem Auge für das Wesentliche. Und Hitler war nicht der Mann, der sich täuschen ließ. Hätte Müller Geschichten erfunden, um Hitler zu gefallen, so wäre ihm das eine Zeitlang geglückt. Aber letzten Endes wäre die Wahrheit in der einen oder anderen Form ans Tageslicht gekommen, und Müller hätte rasch die Quittung seines unaufrichtigen Verhaltens bekommen. In diesem Sinne scheinen Müllers Angaben über die Schattenseiten der Person Stauffenbergs durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen zu liegen. Die Bewertung über den
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Dichter George bezüglich seiner homosexuellen Veranlagung sind übrigens nach dem heutigen Stand der Forschung in mancher Hinsicht bestätigt.*
Es gibt in den Münchener Polizeiakten noch immer Unterlagen, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind und die das Thema in Gänze abdecken. Es steht außer Frage, daß Stauffenberg und sein Bruder intime Mitglieder des inneren George-Kreises waren und ihn in sein Exil in die Schweiz begleiteten. Selbstverständlich besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Veranlagungen Stauffenbergs und seinem politischen Tun. Aber um das Wesen der Widerstandsbewegung klar zu verstehen, ist es erforderlich, nicht nur die Beweggründe, sondern auch den Charakter der handelnden Personen zu untersuchen.** Selbst manchem mit ihnen sympathisierenden Biographen kam die Stauffenberg-Familie seltsam vor.
* Der Stauffenberg-Biograph Joachim Kramarz widmet George und seinen Einfluß auf Stauffenbcrg ein ganzes Kapitel, erwähnt den Verdacht der Homosexualität, aber scheidet ihn aus. Es sollte auch erwähnt werden, daß Kramarz alle anderen negativen Berichte über Stauffenberg als Nazi-Propaganda, die dazu bestimmt ist, einen großen Helden von unfehlbarem Charakter und hehren Beweggründen verächtlich zu machen, wegläßt. Das Vorwort zu diesem Buch stammt von Trevor-Roper (›Stauffenberg‹, Macmillan, New York 1967, S. 29-35).
** In seinem Buch ›Putsch‹ (Wyden, New York 1970) erörtert Richard Hanscr die homosexuelle Natur von George und seiner Bewegung. Die Gedichte an den schönen Münchencr Jüngling werden ebenfalls erwähnt (S. 54-57).
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Stauffenbergs Vater war Hofmarschall beim württembergischen König. Er verwaltete die Finanzen. Und als der abgesetzte König starb, beschuldigten ihn Mitglieder der königlichen Familie, in die Kasse gelangt zu haben. Stauffenbergs Eltern galten bis zu einem gewissen Grad als exzentrisch. Stauffenbergs Vater und Onkel sprachen nicht miteinander, Stauffenbergs Mutter wandelte in fließenden Gewändern durch Lautlingen und las laut Gedichte vor. Claus war anfänglich von Hitler beeindruckt, da er von beherrschenden Männergestalten angezogen wurde. Aber bald hatte er das neue Staatsoberhaupt satt und suchte nach anderen Vaterfiguren. Oft wird er als glänzender Stabsoffizier dargestellt. Stauffenberg war ein fachlich guter und energischer Planer, war aber so angriffslustig und stur, daß er im allgemeinen von Seinesgleichen gemieden wurde. Claus von Stauffenberg war einer jener Menschen, die man entweder sehr bewundert oder verachtet. Seine Eigenheiten zusammen mit seiner lauten und beharrlichen Art, Gespräche, in die er zufällig geriet, an sich zu reißen, machten ihn bei den Mitgliedern des Generalstabes, deren Losung es war, ›Mehr sein als scheinen‹, nicht eben beliebt. Weil Stauffenberg eine Anzahl irritierender Eigenheiten besaß, muß dies nicht bedeuten, daß er unfähig oder hinsichtlich seiner Handlungen im Irrtum war. Stauffenberg irrte, da er versagte.
Die Ermordung von Hitler und seiner höchsten militärischen Führer hätte Stalin gefallen können. Aber sie hätte den Krieg auf keinen Fall beendet. Und seine Pläne für ein baldiges und glückliches Ende des brutalen Krieges sind so idealistisch, daß sie jeden Realitätssinn Stauffenbergs vermissen lassen. Er legte eine Bombe unter Hitlers Tisch und entfernte sich dann fast sofort aus dem Raum, um das Blutbad aus der Entfernung zu beobachten. Er war keines-
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falls ein Märtyrer. Als er nach einem dreistündigen Flug in seinem langsamen Flugzeug in Berlin ankam, fand er das Hauptquartier der Reservestreitkräfte in einem trägen Zustand. In diesem Stadium machte Stauffenberg einen verhängnisvollen Fehler: Er log seine Mitverschwörer an und sagte zu ihnen, er habe Hitlers Leiche gesehen. Auf der Grundlage seiner beharrlichen Behauptung und im Wissen, daß die Gestapo bald ihrem Hauptquartier einen gewaltsamen Besuch abstatten würde, wenn sie nicht tätig werden würden, begannen die zögernden Generale zu handeln. Mit seiner Lüge verurteilte Stauffenberg die Männer um ihn herum zu einem schrecklichen und erniedrigenden Tod. Aber wie bei allen Fanatikern heiligte auch hier der Zweck die Mittel.
Nach dem Krieg kamen eine Vielzahl anonymer Gerüchte über Attentatsversuche gegen Hitler in Umlauf. Die Gersdorff-Geschichte mit der Bombe in der Tasche erwies sich ebenfalls als unrichtig. Und auch die Schlabrendorff-Bombe im Flugzeug erwies sich als falsch, als man den offiziellen Reisebefehl Hitlers für den fraglichen Tag fand, der zeigt, daß Oberst Brandt mit einer anderen Maschine flog.
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