VORWORT

Oft genug begnügen sich historische Abhandlungen damit, nur ältere Darstellungen zu übernehmen. Neues und vor allem bedeutendes Quellenmaterial taucht nur selten auf: Entweder wurde es zerstört oder es ist absichtlich versteckt worden. Wenn derartiges Material dann dennoch auftaucht, wird es durch die etablierten Historiker meist abgelehnt, zumal dann, wenn es ihre Veröffentlichungen als überholt erscheinen läßt.

Hier haben wir es mit einer zentralen Gestalt des Dritten Reiches zu tun, einem gewissen Heinrich Müller, auch als Gestapo-Müller bekannt, um ihn gleich von einem anderen Heinrich Müller zu unterscheiden, der den gleichen Rang hatte und in der gleichen Abteilung tätig war wie sein Namensvetter. Wie der Name andeutet, war Gestapo-Müller von 1939 - 1945 Chef des Reichssicherheitshaupt-amtes (RSHA), Amt IV, der Gestapo.

Gestapo stand für Geheime Staatspolizei und war ein Begriff, der vor und während des Zweiten Weltkrieges Millionen in Schrecken versetzte. Er wird auch heute noch benutzt, um ein Bild von Grausamkeit und Unterdrückung heraufzubeschwören.

Heinrich Müller verschwand gegen Ende des Krieges. Er wurde zuletzt am 29. April 1945 in Hitlers Bunker in Berlin gesehen. Offiziell ließ man später verlauten, er sei getötet worden. Zu Beginn der 80er Jahre tauchte dann ein Großteil des Müllerschen Privatbriefwechsels und eine Anzahl bedeutender offizieller Dokumente in der Schweiz auf und gelangte in die Hände eines Sammlers deutscher Dokumente.

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Auf der Grundlage dieser Dokumente wurde das vorliegende Buch sorgfältig zusammengestellt. Es beruht nicht auf Gestapo-Berichten aus der Kriegszeit, sondern auf Gesprächen nach dem Krieg, die zwischen Müller und einem amerikanischen Abwehroffizier in der Schweiz stattfanden. Es muß nachdrücklich festgehalten werden, daß der ehemalige Gestapochef weder festgenommen wurde, noch unter irgeneinem Verdacht stand. Das 800 Seiten umfassende Gespräch sollte nicht als Grundlage für ein Gerichtsverfahren dienen, sondern war ganz einfach ein Arbeitsgespräch.

Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Ein Mann wie Müller, der noch vor Beginn des Kalten Krieges, sofern entdeckt, sofort festgenommen worden wäre, war nun im Jahre 1948 jemand, dessen Erfahrung und besondere Kenntnisse für die Spionage im kommunistischen Machtbereich vom Westen so dringend benötigt wurden.

In dieser Ausgangslage stand Müller nicht unter dem Zwang zu lügen, um Verzeihung zu bitten oder sich entschuldigen zu müssen. Er sagte, was er über eine Vielzahl historischer Themen dachte und wußte, und offensichtlich bereute er nichts.

Die Gesprächsthemen umfassen Persönlichkeiten des Dritten Reiches, darunter beschreiben lange Abschnitte seine Beziehungen mit Hitler, Hermann Göring, Heinrich Himmler, Martin Bormann und anderen hohen Chargen des Dritten Reiches sowie mit vielen Einzelpersonen, die an dem Attentatsversuch gegen Hitler im Jahre 1944 beteiligt waren. Müller war mit den Untersuchungen in diesem Fall befaßt, und seine Berichte und Mitteilungen enthalten Material, das bis jetzt noch unbekannt war.

Weiterhin befinden sich in den Unterlagen ausführliche und oft erstaunliche Hinweise auf alliierte Führungsper-

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sönlichkeiten sowie sowjetische Infiltrierung in Spitzengremien alliierter Militär- und Regierungsstellen.

Er äußerte sich auch detailliert über die Konzentrationslager, die Deportation von Juden und die Herstellung von amerikanischem und britischem Falschgeld sowie über andere entscheidende Bereiche der Epoche zwischen 1933 und 1945, die in diesem jedoch Band keine Berücksichtigung finden konnten.

Dieses Buch entstand aus Tausenden von Seiten geheimer Dokumente, die den Unbefangenen in jedem Kapitel aufrütteln werden. Ein Teil handelt von den deutscherseits als hochkarätig eingestuften Mitschnitten der privaten Ferngespräche zwischen Franklin Roosevelt und Winston Churchill. Darunter ist das schockierendste Gespräch das über Pearl Harbor.

Der Verfasser hat ausreichend neues Material herangezogen und mit Anmerkungen versehen, sodaß er die etablierte Historikerzunft in erhebliche Erklärungsnöte bringen wird. Gleichzeitig taucht die Gestalt, der Charakter von Gestapo-Müller in aller Deutlichkeit vor uns auf. Dies sind die Berichte eines hochintelligenten und vielschichtigen Mannes, der mitten im Machtzentrum des Dritten Reiches tätig war und der jetzt nach dem Krieg nicht nur lebte, um darüber zu berichten, sondern der es auch im Gespräch mit seinen einstigen Gegenern fertig brachte, Ablehnung, Gegnerschaft in einen persönlich Sieg umzuwandeln.

Heinrich Müller war schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in entscheidender Stellung. Er verließ die geschichtliche Bühne in Berlin am Ende der Götterdämmerung. Diese Darstellung fußt auf Primärquellen. Es wird unmöglich sein, sie nicht zu beachten oder beiseite zu legen.

Frank Thayer

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