EINFÜHRUNG

In den frühen Morgenstunden des 25. September 1963 wurde auf dem Soldatenfriedhof in Berlin-Kreuzberg ein Grab geöffnet und dessen Überreste für ein Sachverständigengutachten geborgen. Die Grabinschrift wies auf einen gewissen Heinrich Müller, geb am 28. April 1900 und angeblich getötet bei Straßenkämpfen in Berlin, als die Rote Armee die deutsche Hauptstadt einnahm. Unerwähnt blieb, daß Müller SS-Gruppenführer und Generalleutnant der deutschen Polizei und seit 1935 Chef der deutschen Gestapo, der Geheimen Staatspolizei war.

Die Exhumierung erfolgte auf Wunsch der »Ludwigsburger Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbre-chen«. Die Zentralstelle hatte Hinweise erhalten, daß Müller nicht tot, sondern vielmehr von einer ausländischen Regierung bei guter Bezahlung beschäftigt sei. Einer der ersten Schritte dies zu beweisen war, festzustellen ob die Gebeine im Grab der Leichnam von Heinrich Müller war, für den eine Sterbeurkunde beim Standesamt Berlin-Mitte mit der Nummer 11 706/45 existierte.

Eine gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, daß sich in diesem Grab die Überreste von drei Männern befanden, von denen allerdings keiner Heinrich Müller war.

Der gesuchte Mann war der Sohn eines kleinen Beamten. Er hatte eine Volksschule besucht und dann eine Ausbildung für den Bau von Flugzeugmotoren gemacht. Im Juni 1917 war er in das kaiserliche Heer eingetreten. Aufgrund seiner Vorbildung kam Müller am 18. April 1918 zur Fliegerausbildungsabteilung 287. In den sieben verbleibenden Monaten bis Kriegsende wurde Müller im

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August 1918 zum Unteroffizier befördert und erhielt das EK II und I. Es wurde ihm auch das bayerische Flugzeugführerabzeichen und nach der Verwundung bei einem Flugzeugunglück auch das bayerische Flugerinnerungsabzeichen verliehen. Während des Ersten Krieges war Müller nur an der Westfront im Einsatz.

Als der Krieg vorbei war, trat Müller 1919 in die Münchener Polizei ein. Er bestand die Aufnahmeprüfung und wurde Polizeibeamter. 1929 wurde er zum Polizeikom- missar befördert und war in der Abt. VI der Bayerischen Staatspolizei tätig, die sich um kommunistische Tätigkeiten zu kümmern hatte. 1934 wurden Müller und eine Reihe seiner Mitarbeiter zur Gestapo nach Berlin versetzt und am 20. April 1934 Mitglied der SS im Range eines Sturmführers. 1935 wurde Müller Chef der Abt. II (Gestapo), 1936 Chef der Gestapoabteilung im Hauptquartier der Sicherheitspolizei. 1937 beförderte man ihn zum Kriminalrat und 1939 schließlich zum Reichskriminaldirektor. - Seine weiteren Beförderungen: Obersturmführer am 11. Juli 1934 SS-Sturmbannfuhrer am 30. Jan. 1935; SS-Obersturmbannführer am 9 Nov. 1936; SS-Standartenführer am 30. Jan. 1937; SS-Oberführer am 20. April 1939; SS-Brigadeführer und Generalmajor der deutschen Polizei am 12. Dez. 1940; SS-Gruppenführer und Generalleutnant der deutschen Polizei am 9. Nov. 1941.*

Die Organisation, die Müller kontrollierte, die Geheime Staatspolizei, war 1933 von Hermann Göring als preußischem Ministerpräsidenten gegründet worden, aber später von Heinrich Himmler als Teil seines Machtbereiches

* zu den SS-Rangen, siehe Anhang l

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vereinnahmt worden. Die zahlreichen Änderungen, Ergänzungen, Übernahmen und Ausdehnungen des Machtbereichs der Gestapo in der Zeit ihres Bestehens würden allein einen Band füllen, denn wie Himmler baute auch Müller seinen Machtbereich beständig aus. Ende 1944 war die Gestapo wie folgt gegliedert:

RSHA-Amt IV (Gestapo)
Amtschef: SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Heinrich Müller

IV A Fachreferat
IV B Länderrat
IV C Grenzpolizei
Diese Hauptabteilungen waren wie folgt untergliedert:

IV AI - links- wie rechtsradikale Opposition
IV A2 - Gegensabotage
IV A3 - Gegenspionage
IV A4 - Juden, christliche Kirchen
IV A5 - Sonderfälle
IV A6 - Sicherheitsverwahrung

IV B l - besetzte Gebiete im Westen
IV B2 - besetzte Gebiete im Osten
IV B3 - besetzte Gebiete im Südosten
IV B4 - Pässe und Ausweise
IV Ba - Grundsätze zur Beschäftigung von Fremdarbeitern

IV C - Zollgrenzschutz

Obwohl auf Anordnung von Müller 1945 die meisten Gestapo-Akten vernichtet worden sind, kann geschätzt werden, daß sich die Zahl aller Gestapo-Mitarbeiter auf 25.000 belief, zuzüglich einer unbestimmbaren, aber weitaus höheren Zahl von Vertrauensleuten, freiwilligen,

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vermutlich bezahlten Informanten. Als 1943 die Abwehr der Wehrmacht wegen ihrer mageren Ergebnisse aufgelöst wurde, gelang es Müller, sich die »Abt. Gegenspionage« in seinen Machtbereich einzuverleiben. Obwohl Hitler im Juni 1941 angeordnet hatte, daß die Wehrmacht allein im Bereich der Rundfunkspionage zuständig sein sollte, wurde Müller nun auch auf diesem Gebiet tätig und hatte bei Kriegsende eine umfangreiche Rundfunkspionageabteilung aufgebaut, die sich auf »playbacks« oder das Umdrehen von Agenten spezialisiert hatte, um deren frühere Arbeitgeber mit falschen Nachrichten zu versorgen und andere Agenten oder solche, die neu eingesetzt werden konnten, ausfindig zu machen.

Die Gestapo war für ihr ausgezeichnetes Informationsnetz bekannt, das es erlaubte, die Bevölkerung sehr eng zu überwachen. Gegenüber dem Wirkungsgrad der im Nach-kriegsdeutschland tätigen kommunistischen Stasi war der Zugriff der Gestapo auf die Bevölkerung gering. Die deutschen Behörden hatten schon immer auch im Landesinneren die Vorlage von Ausweisen verlangt. Verlangt wurde auch, daß die Bürger ihre ständige Wohnanschrift und ihren Arbeitsplatz registrieren ließen. Auf diese Weise hatte die Gestapo kaum Schwierigkeiten, eine Kontrolle auszuüben. Die Gestapo unterhielt auch Einrichtungen zur Telefonüberwachung und zur Postkontrolle. Diese Methoden sind weder für Deutschland noch die Gestapo einzigartig, waren aber gründlicher und umfassender als in den westlichen Staaten. Müllers Leuten stand jedoch nicht die amerikanische Technik zur Verfügung, die privaten Fernsehapparate, die weltweit mit den Kabelnetzen verbunden waren zu nutzen, um private Gespräche abhören zu können, vor allem deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt der Fernseher in Deutschland noch nicht im großen

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Stil eingesetzt wurde. Ansonsten wurde fast jede denkbare Form der Überwachung genutzt, und nach dem Kriege zeigten die Sieger ein beachtliches Berufsinteresse an den Methoden und Techniken der Gestapo.

1924 heiratete Heinrich Müller Sophie Dischner. Ihr Vater war der Herausgeber einer rechtsaußen angesiedelten bayerischen Zeitung, die allerdings in Gegnerschaft zu Hitler stand. Am 4. Jan. 1927 wurde der Sohn Reinhard geboren, und am 9. Sept. 1936 die Tochter Elisabeth. Die Tochter war mongoloid. Aufgrund dessen kam es im Eheleben Müllers zu beachtlichen Spannungen. Schließlich entfremdete er sich von seiner Frau und soll ein längeres Verhältnis mit seiner Sekretärin Barbara Hellmuth gehabt haben. Müller und seine Frau waren gläubige Katholiken, und selbst als hochrangiger SS-Offizier weigerte er sich, aus der Kirche auszutreten. Er schloß sich der NSDAP erst sehr spät und erst dann an, als er dazu entschieden aufgefordert wurde. Müller war der Partei als engagierter Gegenspieler bekannt, als sie im München der 20er und der frühen 30er Jahre um die Macht kämpfte. Parteimitglieder waren schockiert, als Müller und die Leute seiner Abteilung in die SS übernommen wurden und die Verantwortung über die Gestapo erhielten. Sie hörten nie auf, sich über das zu beklagen, was sie als ein ideologisches Verbrechen ansahen.

Müller verdankte seinen Aufstieg und seine folgenden Beförderungen seiner Intelligenz, seiner Tatkraft und seiner Rücksichtslosigkeit. Er war ein zurückhaltender Mensch; Bilder von ihm lassen sich kaum finden. Sein nomineller Vorgesetzter Ernst Kaltenbrunner wurde nach dem Krieg von US-Stellen ausführlich nach Müller befragt, als diese ihn suchten. Auszüge aus den Kommentaren eines Mannes, der Müller ebensowenig mochte wie

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Müller Kaltenbrunner und der für den Gestapo-Chef Luft war, sind höchst aufschlußreich. Der nachfolgende Auszug stammt aus dieser Befragung:

»Müllers Einfluß auf die Herausbildung der Stapo-Mitar-beiter zeigte sich nicht nur bei der Gründung; später wurden alle Posten im Amt IV mit Leuten besetzt, die Müller persönlich ausgesucht hatte, darunter auch die Polizei-Attaches... Müller war unglücklich verheiratet, hatte zwei Kinder, darunter einen Jungen von 17 Jahren, der noch kurz vor Kriegsende eingezogen wurde. Das zweite Kind war viel jünger. Das Zweitgeborene war mongoloid, und man nimmt an, daß Müller aus diesem Grund jegliche Kontakte mit Freunden und Nachbarn mied. Müller verbrachte wegen seiner unangenehmen häuslichen Verhältnisse fast die ganze Zeit im Büro. Der Großteil seines gesellschaftlichen Lebens war auf das Offizielle beschränkt wie Huber, Piffrader, Geisler, Meisin-ger und Gotthalmseder... berichten. Als ich ihn zum ersten Mal traf, bemerkte ich nichts Besonderes an ihm. Er war ziemlich schlank, hatte durchdringend blickende dunkle Augen. In seiner Erscheinung war nichts Offenes und Freundliches, sondern eher Lockendes. Er war jedoch korrekt, aber vielleicht zu bescheiden. ... Müller hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis. Er kannte jeden, der je seinen Weg gekreuzt hatte und alle Vorgänge. Für Himmler war er ein lebendes Lexikon. ... Er wollte stets alles selbst machen und gab seinen Mitarbeitern keine Gelegenheit zu einer eigenständigen Entwicklung; in der Tat ist sein schlechtes Verhalten selbst von Himmler kritisiert worden«.*

* Kaltenbrunner - interrogation for Nuremberg trial

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Es gibt nur wenige Beschreibungen darüber, wie Müller bei Verhören vorging. Jedenfalls muß er sehr geschickt gewesen sein. Aufgrund seines beachtlichen Gedächtnisses konnte er fast immer die Wahrheit herausholen. Der einzige erhaltene Bericht stammt aus den Aufzeichnungen des gefangenen englischen Spions Captain Best. Nach dem Bombenattentat gegen Hitler wurde Best noch im selben Monat festgenommen, am 9. November 1939 Müller vorgeführt und von diesem verhört. Best urteilte:

»Müller war ein gepflegter, gutaussehender kleiner Mann, der nach Art von Adolf Hitler gekleidet war: graue Uniformjacke, schwarze Reithosen und Stiefel. Als er eintrat und auf mich zuging, begann er, sofort zu schnauben und steigerte Tonhöhe sowie Stärke seiner Stimme mit großer Kunstfertigkeit. Er schaffte es, an mich heranzukommen, ehe seine Stimmbänder zerrissen. ›Sie sind in der Hand der Gestapo. Bilden Sie sich ja nicht ein, daß wir irgendwelche Rücksichten nehmen. Der Führer hat der Welt schon gezeigt, daß er unbesiegbar ist. Und bald wird er kommen, um das Volk von England von den Juden und Plutokraten so wie Sie einer sind, zu befreien.‹ Dann setzte er sich auf einen Stuhl vor mir und zog ihn so weit als möglich heran, offensichtlich in der Absicht, irgendeinen hypnotisierenden Trick zu versuchen. Er hatte ziemlich lustige Augen, die er unheimlich schnell hin und her wandern lassen konnte. Ich vermute, dies sollte im Herzen des Hinsehenden Schrecken hervorrufen«. Best traf dann auf Heydrich, der ihm zuschrie: ›Bislang sind Sie als Offizier und Herr behandelt worden. Aber denken Sie ja nicht, daß dies so weitergeht, wenn Sie sich wie bisher verhalten. Sie haben zwei Stunden Zeit alles auszupacken. Falls nicht, übergebe ich Sie der Gestapo, die es versteht, mit solchen Verbrechern und Kriminellen um-

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zugehen - deren Methoden werden Ihnen überhaupt nicht gefallen‹.

Ich wandte mich an Müller, der neben mir stand und fragte: »Wer ist dieser erregbare junge Offizier? Daraufhin ging Heydrich wirklich an die Decke und schäumte; er bespuckte mich reichlich. Müller schob mich schnell in meinen eigenen Raum. Später kam er wieder zu mir und sagte, ich möge das Ganze nicht zu ernst nehmen: »Es wird selten so heiß gegessen, wie gekocht wird.«

Best beendet seine Beschreibung, in dem er ausführt: »Auf Grund meiner Erfahrung hielt ich Müller für einen sehr netten kleinen Mann.« *

Heinrich Müller war 172 cm groß, kräftig gebaut, hatte dunkelbraunes Haar, das an den Seiten hoch geschnitten war und markante Gesichtszüge. Er hatte einen schmalen, festen Mund und lachte selten. Sein Gesicht, seine ganze Person, war von seinen zwei Augen mit schweren Lidern beherrscht, die Menschen durchdringend ansehen konnten. Aufgrund einer Kriegsverletzung humpelte er etwas. Der Mann, der ihn nach dem Krieg befragte, und der in der folgenden Begebenheit als ein weiteres Befragungsopfer Müllers erscheint, machte ebenfalls einige persönliche Bemerkungen über den ehemaligen Gestapochef.

Er notierte: ›In seinem persönlichen Umgang mit mir, außerhalb der Befragungen, fand ich Müller höflich, sehr intelligent und aufnahmefähig und mit einem Sinn für schwarzen Humor ausgestattet. Er war ein ausgezeichneter Gastgeber, der sich von seiner früheren Mittelschichtherkunft gelöst hatte und beachtliche Kenntnisse der Literatur und Musik zeigte, die er sich angeeignet hatte. Er

* Best, Pajne: The Venlo-incident, London 1950

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liebt es, ausgezeichnet zu speisen und seine Wahl der Weine ist ohne jeden Fehler... Als ich Müller befragte, fand ich heraus, daß er oft brutal und sarkastisch und sofort bereit war, auf mich los zu gehen, ganz im Gegensatz zu seinem privaten Verhalten. ... Müller liebte es nicht, sein Verhältnis zu seiner Frau und Tochter zu erörtern, die offensichtlich zurückgeblieben war. Aber er schien auf seinen einzigen Sohn sehr stolz zu sein und sprach oft und gut von ihm. ... Er ist noch immer ein sehr guter Katholik und besucht regelmäßig den Gottesdienst. Mit seiner Kirche scheint er in guter Verbindung zu stehen. ... Seine Kenntnisse der Struktur und des Einsatzes der kommunistischen Spionage ist ehrfurchtgebietend und seine ausführlichen technischen Erörterungen sind eine Glanzleistung. Ich hatte General Gehlen zuvor getroffen und mit ihm zu tun gehabt. Müller ist Gehlen bei weitem überlegen hinsichtlich seiner Kenntnisse und deren Anwendung .... Er hat die überaus unangenehme Eigenschaft, jede Diskussion an sich zu reißen und sie nach seinem Gutdünken zu führen. Die Aufzeichnung, dessen bin ich mir sicher, wird diese Neigung wiederspiegeln. ... Es würde schwierig sein, Müller als brutalen Menschen darzustellen, aber das war und ist er tatsächlich. Es handelt sich nicht um körperliche Brutalität, denn dazu neigte Müller nicht. Aber aggressives Verhalten bei Verhören kann nur als eine geistige Art von Brutalität bezeichnet werden. Er ist beharrlich und hartnäckig in seiner Art, und ich persönlich bezweifle, ob ihm jemand in einem Wortgefecht lange Widerstand leisten kann. ... Obwohl er keineswegs ein Nazi gewesen ist, blieb Müller nichtsdestoweniger bis zum bitteren Ende in Berlin, obwohl er damit ein hohes persönliches Risiko einging. Er tat es, wie er sagte, und ich glaube ihm das, weil er zugestimmt hatte, Hitler zu helfen.

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Wenn er gefragt wurde, warum er sich nicht früher abgesetzt habe, sagte er nur, er habe sein Wort gegeben und habe es gehalten. Er schien überrascht zu sein, daß ich eine solche Frage überhaupt stellte. ... Müller ist offensichtlich ein Mann mit festem starken Charakter, sehr rechthaberisch, zynisch, oft von berufswegen brutal und anmaßend, aber erfolgreich und loyal. Er hatte über fast all seine Vorgesetzten, ausgenommen Hitler und vielleicht Göring, abschätzige Bemerkungen gemacht, aber ihnen dennoch bis zum Ende gedient.... seine Loyalität zu seinen früheren Agenten ist außerordentlich bemerkenswert; er weigerte sich, diese preiszugeben und bewies dabei, daß er ein »harter Brocken« auf diesem Gebiet war. ... In der Beschäftigung mit Müller sollte darauf hingewiesen werden, daß er Bummelei nicht duldete. Von anderen Befragungen wissen wir, daß Müller in der Gestapo nicht geliebt wurde. Er trieb seine Untergebenen gnadenlos an und verlangte einen hohen beruflichen Standard. Es ist zutreffend, daß er Gestapo-Agenten bei Unbotmäßigkeit einsperren ließ.... sicherlich einer der spaßigsten Gesichtspunkte seiner Flucht liegt darin, daß er diese mit hohen Summen aus dem Bernhard-Fälschungsprogramm der SS finanzierte. Dieses Programm versuchte er zu unterlaufen, da er glaubte, es würde zu Bestechlichkeit führen. Man hielt es für ratsam, dies ihm gegenüber nicht zu erwähnen‹.

Zu Beginn der 80er Jahre gelangten über Wege, die hier nicht von Belang sind, alle aus Müllers persönlichem Besitz stammenden Dokumente in die Hände eines Privatmannes. Diese Dokumente enthalten Tausende von Berichten, die von Müller vorbereitet oder von Müller empfangen wurden. Sie umfassen jeden wichtigen Gesichtspunkt seiner Karriere und beinhalten auch abgefangenes

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Spionagematerial, Berichte über Verhöre, Zeitungen, ausführliche Unterlagen über feindliche Spionagenetze in Rußland, in den USA, in der Schweiz und in England. Weiterhin befinden sich Listen mit seinen sog. V-Leuten (sein Informantennetzwerk), umfangreiches Material bis hin zu Beweisen vom Attentatsversuch gegen Hitler am 20. Juli 1944. Aufgrund von Hitlers Befehl war Müller voll verantwortlich für sämtliche Untersuchungen. Und selbst bei Kriegsende betrachtete Müller die Nachforschungen als noch nicht abgeschlossen. Tagebuchaufzeichnungen von Admiral Canaris, Berichte über Hinrichtungen, Prozeßakten des Volksgerichtshofes, Todesanzeigen, all dies ist vermischt mit Statistiken über das KL-System*, Verhöre sowjetischer und britischer Agenten, Mordversuche an Hitler und anderen, Unterlagen über fast alle wichtigen Größen des Dritten Reiches, Unterlagen über ausländische Militär- und Politführer, überseeische Telefonmitschnitte der deutschen Postabwehr, Abschriften von Berichten des deutschen Außenministeriums und so weiter, und so weiter.

An diesen Dokumenten zeigten die USA spätestens dann Interesse, als 1948 der Kalte Krieg begann. Müller hatte einiges Material in Berlin verborgen, den Rest in der Schweiz, wo er lebte, als er im Sommer und Frühherbst dieses Jahres von amerikanischen Abwehrleuten vernommen wurde. Die Absicht dieser Gespräche war es herauszufinden, ob Müller für die USA arbeiten würde und ob er Unterlagen hätte, die er seinen neuen Arbeitgebern zur Auswertung überlassen würde. Die ursprünglichen Gespräche umfassen über 800 Seiten, zweizeilig, auf amtli-

* KL = Konzentrationslager

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chem Papier niedergeschrieben. Die Gespräche wurden auf deutsch geführt und von einem Stenographen mitgeschrieben. Dann wurden sie ins Englische übertragen. Abschriften der deutschen wie der englischen Fassung gingen an Müller sowie an die Befrager. Die Müllersche Fassung enthält Anmerkungen in seiner kleinen, kräftigen Handschrift. Anmerkungen, die sarkastische Kommentare, Berichtigungen und Verbesserungen enthalten.

Aus diesen 800 Seiten wurden Themenbereiche von besonderem historischem und politischem Interesse ausgewählt. Da einige Themen mehrmals erörtert worden sind, wurden diese hier so veröffentlicht, daß sie zusammenpassen. Jeder, der schon die Übertragung einer eidesstattlichen Erklärung oder die stenographische Wiedergabe einer Gerichtsverhandlung gesehen hat, wird feststellen, daß die genaue Übertragung mit Pausen, Wendungen oder holpriger Prosa angereichert ist. Aus stilistischen Gründen wurde auf die Wiedergabe solcher Floskeln verzichtet -hinzugefügt wurde, ausgenommen der gekennzeichneten Anmerkungen, nichts. Der Verfasser hat seine Kommentare, dort wo nötig, am Ende eines Abschnittes angebracht, um die einzelnen Themenbereiche zu erläutern oder zu vertiefen. Vor den Kommentaren sind die Seitenzahlen der »Müller-Papiere« angeführt, so daß dem historisch Interessierten eine Überprüfung möglich ist.

Der Anhang umfaßt einige Abschriften, Ablichtungen wichtiger Dokumente, so daß der Leser sich selbst die Erfahrung geschichtlicher Unmittelbarkeit verschaffen kann.

Pseudowissenschaftlich zu arbeiten, indem man Meinungen oder Erklärungen höher veranschlagt, als die Fakten, ist weder beabsichtigt noch erforderlich.

Viele Historiker, die sich als »schöpferische« Schreiber betrachten, überfrachten ihre Berichte mit Nebensäch-

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lichkeiten wie »Roosevelt lächelte in sich hinein, als er dachte«... oder »Hitler runzelte die Augenbrauen, schaute aus dem Fenster, wobei er hoffte, er finde die Zeit, um den Hund auszuführen«. Dies ist künstlerische Freiheit, hat aber nichts in einer ernsthaften historischen Abhandlung zu suchen. Müller faßte diese Art von Berichterstattung mit der bissigen Bemerkung zusammen, man solle Berufspolizisten Geschichte schreiben lassen. Er war der Auffassung, daß das Enderzeugnis hier zwar nicht ganz so ästhetisch sein könne, aber dafür um ein Vielfaches genauer sei.

Aufgrund der Stellung, die Müller im Dritten Reich innehatte und die Rolle, die er spielte, stellt sich die Frage, warum kein Schriftsteller oder Geschichtsforscher bisher den Versuch unternommen hat, ein Werk über den Chef der Gestapo zu schreiben. Abgesehen von mehreren Seiten in den Büchern von Heinz Höhne, gibt es nichts Gedrucktes über diese entscheidende Persönlichkeit, und vieles davon ist äußerst oberflächlich und ungenau. Obwohl es genügend Material in Archiven gibt, ist Müller aus verschiedenen Gründen »durchs Sieb« der Historiker gefallen.

Zum ersten: Heinrich Müller war ein Mensch, der die Öffentlichkeit mied. Im Gegensatz zu vielen von Hitlers Vasallen mochte er öffentliche Auftritte nicht und wurde deshalb auch selten fotografiert. Zudem zeichnete sich Müller durch Fleiß und preußische Disziplin aus.

Zum zweiten: Schriftsteller neigen zum Dramatischen und Auffallenden, nicht zum Kalten und Abgeschlossenem. Die meisten Abhandlungen über historische Persönlichkeiten orientieren sich wie gesagt nicht an neuen oder bisher nicht beachteten Quellen, sondern kompilieren, meist substanzlos, den Forschungsstand. Der Hitler-Biograph Joachim Fest soll angeblich stolz gewesen sein,

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keine einzige Primärquelle vor der Niederschrift seines opus gelesen zu haben.

In der akademischen Welt nennt man derlei nicht Plagiat, obwohl es das ist, sondern Forschung, was zweifelsfrei nicht zutrifft.

Im Zeitalter der political correctness mögen Müllers sarkastische und oft auch bissige Kommentare jene, die solche Aussagen als zerstörerisch für die Selbstachtung ansehen, bedauern. Die Natur fand es eben nicht erforderlich, den Schafen Selbstachtung beizubringen, wenn die Wölfe hungrig sind. Wenn ein einfacher Hausmeister zum Ingenieur für Sanitärwesen wird, wenn Mongoloide zu Andersbegabten und militante Lesbierinnen zu Feministinnen umgedeutet werden, dann müßte sich auch eine Abhandlung über Müller mit dem herrlichen Ausblick aus seinem Arbeitszimmer auf die Schweizer Berge und den See, in dem sie sich wiederspiegeln, befassen, möchte man ironisch hinzufügen.

Im Jahre 1973 erließen die westdeutschen Behörden einen Haftbefehl gegen Heinrich Müller in der richtigen Annahme, daß er 1945 nicht in Berlin ums Leben gekommen war. Der Schriftwechsel zwischen deutschen Behörden und ihren amerikanischen Partnern, der sich in amtlichen US-Akten befindet, zeigt auf, wie unglücklich, enttäuscht und in wachsendem Maße verärgert die deutsche Seite gegenüber dem klassischen Mauern der amerikanischen Gegenseite war. Ein Teil der Müllerschen »US-CIC-Akten«, die sich jetzt in Ft. Meade, Maryland, befinden, wurden zensiert. Es ist unwahrscheinlich, daß die geschwärzten Dokumente sich mit der Person Müllers unmittelbar nach dem Krieg befassen. Die Gründe für die weiterbestehende Klassifizierung: Ihre Freigabe würde die nationale Sicherheit der USA negativ beeinflussen.

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Die fraglichen Auszüge umfassen nur die Zeit bis zum Ende des Krieges, und, sofern sie damit zusammenhängen, reichen sie in das Jahr 1948. Weiteres Material soll in einer zweiten Veröffentlichung publiziert werden.

Die ausführlichen Akten von Heinrich Müller stellen eine historische Quelle ersten Ranges dar. Der passende Ort für eine solche Sammlung sollte ein Archiv oder eine Einrichtung sein, wo alle Unterlagen, zu denen jeder, der nachforschen will, Zugang hat, gesammelt sind. Unglücklicherweise hat sich aufgrund der hohen Brisanz des Materials kein Archiv, kein Institut, bis zum heutigen Tage bereit gefunden, die gesamten Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Falls solch eine Einrichtung gefunden werden kann, dann werden die gesamten Müller-Dokumente jedermann zugänglich sein. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist die Haltung maßgebender Archivare und Bibliothekare noch von Entsetzen geprägt. »Um Gottes willen, Sie können doch nicht von uns erwarten, daß wir diese Unterlagen freigeben? Wir hätten nur Schwierigkeiten, wenn wir das tun würden. Wir würden sicherlich von Betroffenen oder deren Familien verklagt werden.«

Eine Lösung für dieses Problem läge in der Möglichkeit, die ganze Dokumentensammlung auf Mikrofilm festzuhalten und somit das Material Forschern und der Öffentlichkeit im allgemeinen zugänglich zu machen. Vielleicht erwägt der gegenwärtige Besitzer eine solche Lösung.

*

Es scheint üblich zu sein, daß Verfasser ihre Wertschätzung und ihren Dank verschiedenen Freunden und Verwandten für ihre Geduld, für Nachsicht und Unterstützung abstatten. Im Falle des vorliegendes Buches hatte der

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Verfasser beachtliche technische Hilfe und moralische Unterstützung durch eine Reihe von Dienststellen und Einzelpersonen erhalten. Das Thema dieses Buches verursachte jedoch bei vielen dieser Helfer, die rein sachlich mit Begeisterung dabei waren, Unbehagen, so daß sie nur unter strikter Zusicherung, daß ihre Namen nicht genannt werden würden, behilflich waren. Diesen Besorgten danke dennoch ich aufrichtig. Insbesondere danke ich den nachfolgend aufgeführten Einzelpersonen und Stellen für die Unterstützung, historische Lücken der Gespräche füllen zu helfen und Zusatzmaterial, das für die Genauigkeit notwendig ist, zu liefern. Ich allein übernehme die Verantwortung für meine Ausführungen. Und wer etwas gegen den Tenor der Originaldokumente vorzubringen hat, ist aufgefordert, dies nach Belieben mit Gruppenführer (rtd) Müller zu erörtern.

Robert Wolfe, Abt. für sichergestellte deutsche Berichte, US National Archives; US Military Intelligence Archives (Archiv der US-Militärspionage), Ft. George Meade, Md; Dr. David Maxwell, ehemaliger Direktor des »Berlin Docu-ment Center«, Berlin; Dr. Waldo Heinrichs, Zentralstelle Ludwigsburg; Geschichtsarchiv der ehemaligen UdSSR; das Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in San Francisco, Kalifornien; Gerhard Windbiel; Gregory Raven; Dr. Heinz von Hungen; Dr. Nicol Galbraith; Ludwig Kosche, Ottawa, Kanada; Dr. Frank Thayer; George McAlister; Eduard von Lupin, Lugano, Schweiz; das Büro des Generalbundesanwaltes (der Bundesrepublik Deutschland) und die Hoover Library, Stanford University, Kalifornien. Weiterhin danke ich Herrn Josef Hatzenbühler, Stockau, Deutschland, für seine Ansichten und Hinweise zur sowjetischen Auslandsspionage, Lt. Col. John Angolia (rtd), Stilwell, Kansas, der mir unveröffentlichtes Material aus den

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Unterlagen von Hermann Fegelein zur Verfügung stellte. Aufrichtig danke ich auch Herrn Robert Hackl, Sherman Oaks; er hat mich bei meinen Nachforschungen über Auschwitz und den damit zusammenhängenden Fragen ebenso detailliert wie kenntnisreich unterstützt.

Besonders danke ich Gitta Sereny, London, England, ohne deren ausführliche Nachforschung hinsichtlich der Echtheit der CIC-Schlüsseldokumente dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können.

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ROGER CASEMENT

Der irische Diplomat Roger Casement hatte keinerlei Verbindung mit dem Dritten Reich, aber in diesem kurzen Exkurs erörtert Müller am Beispiel Casements die Machenschaften des britischen Geheimdienstes, die schließlich zur Hinrichtung von Casement während des Ersten Weltkrieges führten.

F (= Fragesteller): Unabhängig von den offensichtlichen Fälschungen im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand meinen wir, daß die Gestapo eine wirksame Fälscherwerkstatt betrieb, in der sie recht ordentliche sowjetische Dokumente und Ausweispapiere herstellte. Ist das zutreffend?

M (= Müller): Ja. Obwohl die Anfangsversuche nicht besonders gut waren, und Agenten gefangen genommen wurden, wurde diese Abteilung in der Tat sehr tüchtig.

FC: Stehen diese Fachleute zur Zeit zur Verfügung?

M: Von einigen weiß ich das, aber von den anderen... Wer weiß?

F: Könnten Sie für mich weitersuchen?

M: Ja, aber Krichbaum* wäre für Sie eine bessere Quelle.

F: Haben Sie Beispiele dieser Arbeiten in Ihren Unterlagen? Siegel und Muster z. B.?

* SS-Oberführer Willi Krichbaum war Müllers Stellvertreter im KSIIA. Er befehligte auch die Geheime Fcldpolizei . Nach dem Krieg arbeitete Krichbaum für Reinhard Gehlen als Hauptanwerber für Agenten. Seine Dienststelle befand sich in Bad Reichenhall. Krichbaum brachte seinen ehemaligen Chef in direkte Verbindung mit dem CIA.

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M: Nein. Ich habe das nicht für wichtig gehalten. Ich habe Originalpapiere in meinen Unterlagen. Da ist eine Ausnahme und diese hat eine besondere Geschichte.

F: Im Zusammenhang mit den Sowjets?

M: Nein, mit den Briten. Interessiert Sie das?

F: Das kommt darauf an.

M: Nur historisches Interesse, aber etwas jüngste Geschichte, die Sie etwas aufklären könnte.

F: Sie haben eine Art an sich, mich zu Fragen zu ermutigen...

M: Natürlich können wir dies auslassen, wenn Sie wollen.

F: Nein, offensichtlich nicht. Ich fühle, daß es wichtig ist. Fahren Sie bitte fort.

M: Wir haben von einem Schweizer eine Nachricht erhalten, daß die Briten an einen Verbrecher, einen Fälscher, namens Zwinglemann, der in der Nähe von Chur lebt, herangetreten sind, damit er deutsche Papiere fälschen soll. Die Schweizer hatten daran kein Interesse und verkauften uns die Nachricht. Wir ließen den Mann in seinem Haus beobachten, bis wir britische Agenten ausmachten, die kamen und gingen. Er lebte abseits von den anderen Leuten....

F: Haben Sie den Ort gesehen?

M: Nein. Nur Bilder. Da die Briten genauso pünktlich sind wie Schweizer Uhren, entschlossen wir uns, ihm einen Besuch abzustatten, um zu sehen, was über die Bühne ging. Er verließ selten das Haus. Einmal in der Woche kam eine Reinemachefrau. So bereitete es nur wenig Schwierigkeiten hineinzukommen. Dieser Mann war in der Tat ein Fachmann. Das kann ich Ihnen sagen. Ein ganzes Stockwerk im Haus war seinem Beruf gewidmet: erstklassiges Fälschen. Meine Fachleute sagten mir, der Mann sei ein Genie.

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F: War?

M: Ja. Er lebt nicht mehr.

F: Zu schade. Wir hätten ihn gebrauchen können.

M: Ich glaube nicht. Er war zu sehr den Briten verpflichtet, um für Sie oder .... uns zu arbeiten. Wir stellten das sehr früh in unserem Gespräch mit ihm fest. Dieser Mann lebte vor 1914 in England. Er hatte ein ausgezeichnetes Einkommen, in dem er Testamente fälschte. Er arbeitete für einige sehr bekannte britische Bevollmächtigte. Ich meine, man nennt sie irgendwie anders...

F: Vielleicht Rechtsanwälte.

M: Ich glaube ja. Er hatte in seinem Geschäft großen Erfolg. Dann kam der Krieg, und er erhielt Besuch vom britischen Geheimdienst. Er war auch ein As in deutscher Schrift, und so heuerte man ihn an. Einer dieser Anwälte war in der Marineabwehr tätig und meinte, dieser Fachmann könnte die britische Sache voranbringen. Kommen wir zu ihm zurück. Sein Haus wurde fünf Stunden lang von vier richtigen Fachleuten durchsucht. Sie fanden eine Menge Unterlagen, an denen er arbeitete. Und ich meine, es könnte Sie interessieren zu erfahren, daß er neben den Unterschriften höchster deutscher Regierungsbeamter auch die Unterschriftsmuster einiger hoher amerikanischer Abwehrleute und Diplomaten parat hatte. Nicht zu vergessen das Originalpapier verschiedener Dienststellen. Er hätte mit seinem Vorrat ein Papier- und Schreibwarengeschäft aufmachen können. Die Dokumente, an denen er zur Zeit unseres Besuches arbeitete, handelten von der angeblichen deutschen Entwicklung von Giftgasen, die an KZ-Häftlingen ausprobiert werden. Natürlich falsch, aber für unsere Fachleute recht überzeugend. Die Briten bezahlten ihn sehr gut.... mit britischem Pfund.

F: Blüten?

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M: Nein. Echtes Geld. Dieser unglückliche Mann war über sein Handeln so erschreckt, daß er meinen Männern entkam und in den Wald hinauslief.

F: Entkam er?

M: Das hängt von Ihrem religiösen Standpunkt ab. Er fiel in einen trockenen Brunnenschacht und brach sich das Genick. Es war dunkel, und zudem paßte er nicht auf.

F: In einen Brunnenschacht? Kommen Sie mir bitte nicht damit. Sie brauchen bei mir nicht auf begriffsstutzig zu machen.

M: Auf jeden Fall war er tot. Sie durchsuchten das Haus bis Sonnenaufgang, glaube ich. Und sie fanden einen höchst aufschlußreichen Pack an Dokumenten, den der Fälscher versteckt hatte. Kurz darauf kam überraschend ein Mann. Es stellte sich heraus, daß er Brite war. Wir hatten ein angenehmes Gespräch unter Fachleuten. Aber wie sein Freund zuvor rannte auch er in den Wald hinaus und, ob Sie es glauben wollen oder nicht, er fiel in den gleichen Brunnen.

F: Sind Sie irgendwie mit Hans Christian Andersen* verwandt?

M: Ich war gar nicht dort. Die Reinemachefrau brauchte diese Woche nicht kommen, da wir alles, was wir fanden, wegschafften. Die dort tätige Gruppe verhielt sich korrekt. Sie reinigte das Haus und füllte sogar den alten Brunnenschacht aus, so daß niemand mehr hineinfallen konnte. Die Briten waren verständlicherweise sehr aufgebracht, insbesondere weil sie sehr schlecht gefälschte Papiere über Ihre Leute erhielten.

* Christian Andersen - dänischer Märchenerzähler.

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F: Sie könnten das mit jemand anderem erörtern wollen. Was für eine Überraschung wollten Sie mir unter die Nase halten?

M: Haben Sie jemals vom »Schwarzen Tagebuch« gehört?

F: Nein.

M: Es handelte sich um ein schmutziges und belastendes Tagebuch, das vom irischen Diplomaten Roger Casement stammen soll. Kennen Sie die Geschichte?

F: Ah, diese. Die Briten haben ihn 1915 hingerichtet, nicht wahr?

M: 1916. Wegen Hochverrats. Dem Inhalt der Dokumente zufolge hatte unser Schweizer Fachmann auf besondere Anordnung des britischen Kapitäns Hall* ein ziemlich umfangreiches Werk erstellt, dessen einzige Absicht es war, den Iren in Verruf zu bringen. Er wurde schwuler Handlungen mit jungen Negern beschuldigt.

F: Ich habe einiges über Casement gehört, aber nicht sehr viel. Hat dieser Mann die Tagebücher gefälscht?

M: Ja. Ich meine, er wollte nicht der Bewahrer solch schmutzige Geheimnisse sein und so bewahrte er alle britischen Muster der Originalhandschrift Casements sowie ein Doppel des von ihm gefertigten Tagebuches auf. Und es gab einige weitere offizielle britische Dokumen-

* Kapitän Rcginald Hall, später Konteradmiral, wurde im Oktober 1914 zum Direktor der britischen Marineabwehr ernannt. Er war ein glänzender, aber auch völlig unmoralischer Abwehroffizier. Und im Verlauf des Krieges diktierte er in der Tat die britische Marinepolitik. Hall, der bis zu einem gewissen Grad skrupellos war, wird als die treibende Kraft hinter dem gefälschten Casement-Tagebuch angesehen.

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te. Aus ihnen ging hervor, was er für sie gemacht hatte. Es war klug, daß er sie behalten hatte. Und er muß es ihnen gesagt haben, weil er nach seiner Arbeit schließlich nicht in England in einen Brunnen fallen wollte. Dieses Paket war eine Art Versicherung. Es mag ihn vor den Briten geschützt haben, aber nicht vor uns. Diese Information hatte damals für uns einen gewissen Wert, da sie uns half, irische Aufständische zu überzeugen, für uns zu arbeiten. Aber ich hatte nie die Möglichkeit, viel daraus zu machen.

F: War Casement schuldig?

M: Pervers zu sein? Wahrscheinlich nicht. Ist es nicht seltsam, daß Leute gewöhnlich ihre Feinde ihrer eigenen Schwächen beschuldigen?

F: Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Kapitän Hall schwul war?

M: Ich weiß nicht. Wie Sie wissen, ist eine große Anzahl von Engländern aus der Oberschicht schwul. Das kommt daher, weil sie jahrelang auf Knabenschulen gehen. Habe ich Sie gut mit meiner Geschichte unterhalten?

F: Es wäre unterhaltend, wenn ich etwas mehr darüber wüßte. Ja, Sie haben mich unterhalten. Erinnern Sie mich daran, nicht mit Ihnen im Wald spazieren zu gehen.

M: So viel Mißtrauen seitens meiner neuen Mitarbeiter!

F: Sie scheinen Wanderungen im Wald zu mögen...

M: Globocnik. Ja. Die Wälder gehen auf die Zeit des kommunistischen Aufstandes nach dem Krieg in München zurück. Viele ihrer Mörder..., der Kommunisten.., gingen in den Wäldern um München spazieren. München als Großstadt hat einige sehr dichte und selten besuchte Wälder. Ich weiß mit Sicherheit, daß Kommunisten in jenen Tagen benutzt wurden, um die Kiefern zu düngen.

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Daher kommt dieses kleine Gleichnis. Wenn Sie sich um das Wasser sorgen, dann können Sie ja einen Filter kaufen.

MU 13-75-96: 15; S. 44-46

Kommentar

Sir Roger Casement wurde am 1. Sept. 1864 in der Grafschaft Dublin in Irland geboren. Obwohl er aus einer protestantischen nordirischen Familie stammte, hatte er für die irische Nationalistenbewegung, die einen irischen Staat errichten wollte, der frei und unabhängig von der politischen und militärischen Kontrolle der Briten war, Sympathien. Als Diplomat im Dienst der britischen Regierung erwarb sich Casement große Anerkennung, indem er die zahlreichen Grausamkeiten der Belgier gegenüber den Eingeborenen in ihrer Kongo-Kolonie aufdeckte. Dies zwang die Belgier schließlich, ihre Kolonialverwaltung zu reformieren. Als er als Diplomat in Brasilien war, entdeckte er eine ähnliche mörderische Tätigkeit der Brasilianer im Flußgebiet des Putymayo. Dafür erhielt er den Sir-Titel. Aus Gesundheitsgründen zog sich Casement aus dem Dienst des Außenministeriums zurück. Er schloß sich der irischen Unabhängigkeitsbewegung an und gründet die ›Irish National Volunteers‹ (Nationalirische Freiwillige). Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging Casement im November 1914 nach Deutschland und versuchte, deutsche Unterstützung für einen irischen Aufstand gegen die Engländer zu erhalten. Die Deutschen waren nicht bereit, bei einem solchen Abenteuer mitzumachen, und Casement kehrte am 12. April 1916 mit einem deutschen U-Boot nach Irland zurück. Es war Case-

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ments Absicht, die irischen Nationalisten vom bevorstehenden Osteraufstand abzubringen. Aber er wurde eine Woche später von den Briten in Irland festgenommen und nach London verbracht. Dort wurde er unter barbarischen Bedingungen eingekerkert und brutal mißhandelt, bis ihm der Prozeß gemacht wurde. Er wurde für schuldig befunden und zum Tod durch Hängen verurteilt. Internationale Versuche, eine Begnadigung Casements wegen seiner früheren humanitären Taten zu erreichen, schlugen fehl, als der britische Geheimdienst plötzlich Tagebücher herausbrachte, von denen behauptet wurde, Casement habe sie geschrieben. In diesen fanden sich die angeblichen homosexuellen Handlungen in allen Einzelheiten. Casement wurde am 3. August 1916 gehängt. Der Osteraufstand der Iren wurde schließlich von der britischen Armee mit äußerster Grausamkeit niedergeschlagen. Man ging gleichermaßen gegen Aufständische wie gegen die Dubliner Bevölkerung vor. Zwölfjährige Knaben wurden wegen Verletzung der Ausgangssperre gehängt. Unbewaffnete Zivilisten, darunter Frauen, wurden von den Besatzungstruppen in den Straßen erschossen oder mit dem Bajonett niedergemetzelt. Einer der Anführer des Aufstandes wurde sterbend aus seinem Kerker geholt, gestreckt und dann von einem Kommando erschossen. Dies war eine äußerst schmutzige Episode in der Geschichte eines Landes mit einer offiziellen Politik, die sich in zahllosen historischen Beispielen ähnlicher Unterdrückungsmaßnahmen wiederspiegelt. Anzumerken ist noch, daß sich das Ganze nicht in irgendeinem entfernten und unbeobachteten Teil von Afrika oder Asien abspielte, sondern innerhalb der Grenzen eines eigentlich zivilisierten Englands. Und die Maßnahmen waren gegen weiße Christen gerichtet.

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Die Frage nach der Echtheit der Tagebücher tauchte sofort auf und führte auf beiden Seiten zu großer Parteilichkeit. 1959 hat die britische Regierung die Tagebücher für eine Untersuchung durch Wissenschaftler freigegeben. Es war voraussehbar, daß probritische Wissenschaftler die Tagebücher für echt erklären, während andere die entgegengesetzte Meinung vertreten würden.

Im Februar 1965 wurden die sterblichen Überreste Casements nach Irland überführt und in einem Staatsbegräbnis beigesetzt. Präsident Eamon de Valera hielt die Grabrede. Im Licht der Müllerschen Kommentare zu den Tagebuchfälschungen, die sich noch immer bei seinen Unterlagen befinden, sowie in Verbindung mit Halls anderen Taten ähnlicher Art in seiner Zeit als Chef der britischen Marineabwehr, kann die Fälschung der Casement-Tagebücher kaum noch angezweifelt werden.

Quellen: The Accusing Ghost or, Justice for Casement» (Der anklagende Geist oder Gerechtigkeit für Casement), Alfred Noyles, 1957; The Black Diaries» (Die schwarzen Tagebücher), Peter Singleton-Gates & Maurice Girodias, 1960; Lusitania, Colin Simpson, 1972; Rebels (Rebellen), Peter de Rosa, 1990.

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